Ob Barbara Rosenkranz, Karl Albrecht Schachtschneider, Joachim Starbatty oder Henryk M. Broder: die Liste derer, die in den vergangenen Jahren kritische Schriften über die Europäische Union publizierten, ist prominent und lang. Flankiert werden diese Schriften von eurokritischen Parteien, die sich inhaltlich vor allem dadurch ausweisen, Kritik an den Mechanismen aus Straßburg und Brüssel zu üben, auf die Konstruktionsfehler des Euro hinzuweisen, das Demokratiedefizit zu beklagen und dem Wähler schlußendlich den Austritt aus der Europäischen Union als umfassendes Allheilmittel der europäischen Probleme anzubieten.
Im Mittelpunkt rechtskonservativer Politik steht dabei zumeist die Rückkehr zum Nationalstaat, der gemeinhin als Paradebeispiel nationaler Souveränität gilt und somit synonym für den Erhalt kultureller und ethnischer Identität verwendet wird. Die Eurokritik und der damit einhergehende Wunsch nach einem Austritt aus der EU sind zunächst keine Luftschlösser konspirativer Ewiggestriger, sondern die logische Folge der verfehlten europäischen Politik auf allen erdenklichen Ebenen. Die Alternative für Deutschland (AfD) ist etwa ein Exempel dafür, wie jene verfehlte Politik bis dato eher unbescholtene Bürger, überwiegend Professoren und Ökonomen, zu einem rationalen Widerstand in Form einer politischen Partei bewog. Doch steht mit dem Erstarken eurokritischer Kräfte tatsächlich auch ein europäischer Wandel, ein spürbarer Umbruch im Raum? Was folgt nach einem Austritt aus der EU? Welche Visionen sind vorhanden? Jene Fragen, also die kapitalen Fragen der europäischen Zukunft, sind es, deren Beantwortung die verschiedenen rechten Kräfte Europas bisher weitestgehend schuldig geblieben sind.
Diese geistige Ohnmacht liegt vor allem darin begründet, daß ein Großteil der rechtskonservativen Eurokritiker es nicht für notwendig erachtet, alternative Konzepte zu erarbeiten und sich auch auf unkonventionelle Visionen einzulassen. Vielmehr herrscht ein historischer Stillstand, der darauf hofft, mit einer Rolle rückwärts die unliebsamen Auswirkungen der letzten Jahrzehnte revidieren zu können. Die Nationalstaaten wieder mit mehr Macht auszustatten, nationale Währungen wieder einzuführen, die Grenzkontrollen zu verschärfen und in einem finalen Schritt den Brüsseler Wasserkopf zu beseitigen, das ist jenes Konzept, welches von der Mehrzahl der eurokritischen Parteien, Schriftsteller und Denker als europäische Lösung angeboten wird. In unserem Buch Junges Europa. Szenarien des Umbruchs haben Felix Menzel und meine Wenigkeit es gewagt, das antiquierte Dogma der wiedererstarkenden Nationalstaaten als Lösung der europäischen Zukunftsfrage anzugreifen und auf den Prüfstand zu stellen. Denn wo nostalgische Kaiser-Romantik herrscht, ist der Weg versperrt für junge und progressive Visionen. Eine Vision, die bei vielen Rechten grundsätzlich auf taube Ohren stößt, ist die eines Bundes der nationalen Völker Europas auf republikanischen Grundlagen – ergo ein europäischer Bundesstaat. Doch wieso eigentlich?
Der französische Publizist Victor Hugo formulierte am 21. August 1849 in seiner Eröffnungsrede zum Pariser Friedenskongreß eine klare Vision Europas: „Ein Tag wird kommen, wo Ihr, Frankreich, Rußland, Italien, England, Deutschland, all ihr Nationen des Kontinents ohne die besonderen Eigenheiten Eurer ruhmreichen Individualität einzubüßen, Euch eng zu einer höheren Gemeinschaft zusammenschließen und die große europäische Bruderschaft begründen werdet.“ Victor Hugo war nicht der Einzige, der bereits von einem gemeinsamen, einem geeinten Europa träumte. Auch der italienische Freiheitskämpfer Giuseppe Mazzini, der spanische Philosoph Ortega y Gasset oder der deutsche Staatsrechtler Carl Schmitt mit seinem „Katechon Europa“ verlangten nach einem solchen Völkerbund. Es ist dabei ein Fehler zu glauben, die Europäische Union und ihr Gründungsmythos der sogenannten europäischen Integration hätten bereits vergeblich versucht, eine solche Vision in die Tat umzusetzen. Denn woran es der Europäischen Union bereits seit ihrer Gründung fehlt, ist zunächst die Verankerung der europäischen Geistestradition in ihren Grundsätzen, jedoch vor allem die Tatsache, daß ein gemeinsames Europa nur dann funktionieren kann, wenn es dem Willen freier Völker entspringt und nicht das Produkt einer Zwangskollektivierung ist. So wie wir sie dieser Tage erleben, ist die EU nur ein europäisches Trugbild und keinesfalls gleichbedeutend mit dem, was Europa seiner Idee nach eigentlich darstellen sollte. Die Brüsseler Eurokratie hat sich als zu schwach und korrupt erwiesen, um die wesentlichen, lebensnotwendigen und grundlegenden Probleme der europäischen Völker zu lösen. Sie hat es lediglich geschafft, der Idee eines geeinten Europas immensen Schaden zuzufügen und besonders in konservativen und rechten Kreisen weitestgehend zu einem roten Tuch zu machen. Doch Europa ist viel mehr. Es ist eine Idee, eine Vision, eine Rückbesinnung auf das geistige Erbe, gar eine Art revolutionäre Renaissance.
Europa existierte historisch nie als einheitliche Wirtschaftsgemeinschaft oder ganzheitlicher Staatenverbund. Auch obliegt es der Wahl der Definition, wie Europa geographisch überhaupt zu fassen ist. Doch Europa existierte zweifellos stets als Entwicklungs- und Konservierungsraum gemeinsamer Werte und Normen, prägender Ideen, Gedankenströmungen und Philosophien. Ein Netz von gegenseitigen intellektuellen und kulturellen Bezugnahmen war es, das Europa einst ausmachte. Unzählige bedeutende Köpfe und ihre Leistungen, etwa Goethe, Rembrandt, Hölderlin, Heidegger oder Dante, wären ohne die europäische Geistestradition, gegenseitige Bezugnahme und den europäischen Austausch nicht denkbar gewesen. Was wäre wohl aus Hölderlin ohne die griechische Antike geworden? Wäre Goethe denkbar ohne seine Italien-Reisen? Es gibt sehr wohl eine europäische Geistestradition, die unser Denken noch immer beeinflußt, weitestgehend auch noch dessen Grundlage bildet. Daß diese einer fortwährenden Zersetzung unterliegt, ist nicht zuletzt ein Produkt der verfehlten europäischen Entwicklung seit 1945 und dem inhärenten Einfluß der US-Amerikaner auf die europäischen Völker. Das gleiche geschichtliche Schicksal sowie das Konglomerat des europäischen Intellekts sind wesentliche Grundlagen, die Europa verbinden.
Es dürfte vielerorts überraschen, daß es neben den bereits genannten europäischen Vordenkern vor allem Antidemokraten waren, die die Vision eines gemeinsamen Europas stark machten. Besonders in rechtskonservativen Kreisen hält sich hartnäckig der Trugschluß, die Vision eines gemeinsamen Europas, gar eines europäischen Bundesstaats, sei das Werkzeug einer totalitären Ausprägung der Demokratie, um durch Zwangskollektivierung, einen bürokratischen Wasserkopf und Gleichmacherei eine möglichst große und zentrale Kontrolle über die europäischen Völker zu erlangen. Daß diese Vorstellung allenfalls auf die Europäische Union in ihrer heutigen Form, jedoch nicht auf den europäischen Gedanken als solchen zutrifft, zeigen die zahlreichen europäischen Visionen bekannter Antidemokraten. Es war dabei vor allem die Idee eines sozialistischen Paneuropas ohne nationale Grenzen, die sich seit den frühen 1930er Jahren ausbreitete, um einen Weg anzubieten, als Europäer gemeinsam gegen den sowjetischen Bolschewismus anzukämpfen. Einer der wohl bekanntesten und frühesten Vetreter des paneuropäischen Gedankens war der französische Schriftsteller Pierre Drieu la Rochelle, der als radikaler Befürworter des europäischen Bundesstaats seinerzeit viele kritische Stimmen auf sich vereinte.
Schon 1922 formulierte er: „[…] Europa wird einen Staatenverband bilden, oder es wird sich selbst verschlingen, oder es wird verschlungen werden.“ Pierre Drieu la Rochelle war von diesem Gedanken zutiefst überzeugt und forderte daher folgerichtig die Auflösung jedweder nationaler Grenzen innerhalb Europas als Startschuß für eine supranationale Lösung. Für Drieu war als Faschist die „Sehnsucht nach einem Europa, das die einzelnen unfruchtbaren Nationalismen überstieg“ einer der zentralen Punkte, um Europa zukünftig vor den Gefahren von außen und innen zu schützen. Nachdem Frankreich 1940 im Zuge des Westfeldzugs in deutsche Hand fiel, gewannen Drieus Ideen erneut an ungeahnter Aktualität.
Frankreich entwickelte sich unter der Vichy-Regierung zu einem geistigen Vorreiter der gemeinsamen europäischen Idee. Der Führer der französischen Kollaborationspartei RNP, Marcel Déat, warb ab 1940 vehement und öffentlich für ein sozialistisches Paneuropa ohne nationale Grenzen. Er schrieb: „Es wird eine Zeit kommen, die die einzelnen Nationen in eine Gemeinschaft verschmelzen wird, wie man schöne, wohl bearbeitete Steine ineinanderfügt.“ Unter der Vichy-Regierung drängten jedoch weitere rechte, zumeist faschistische Kräfte auf ein gemeinsames europäisches Projekt. Der französische Staatssekretär Jacques Benoist-Méchin etwa träumte von einem neustrukturierten Europa, einer europäischen Union auf Grundlage einer gemeinsamen Weltanschauung und „der großen Bruderschaft der revolutionären Parteien“. Zusammen mit Jacques Guérard legte Benoist-Méchin ein umfangreiches Übergangsabkommen (Pacte Transitoire) vor, welches vorsah, die eigene Innen- und Außenpolitik an die der Achse anzugleichen und weiterhin die eigene Ökonomie an die Notwendigkeiten eines europäischen Zollvereins anzupassen. Frankreich, Deutschland und Italien sollten hierbei den Kern einer neuen europäischen Ordnung bilden, also als gemeinsamer Kopf eines neuen Europas fungieren.
Teile der französischen Rechten waren dabei sogar bereit, die eigene nationale Souveränität an ein europäisches Großprojekt abzutreten. Francis Delaisi, überzeugter Vertreter der Paneuropa-Bewegung, forderte in seinem 1942 verlegten Buch La Révolution européenne sogar eine europäische Wirtschaftsgemeinschaft mit einheitlicher Währung, angeglichenen Löhnen, Gehältern und Lebenshalungskosten. Doch auch in anderen europäischen Staaten verbreiteten sich ähnliche Visionen durch prominente Köpfe wie Sir Oswald Mosley und seine Partei British Union of Fascists, Léon Degrelle und seine belgischen Rexisten, Anton Adriaan Mussert und seine Vision eines „Germanischen Staatenbundes“ oder unter dem Norweger Vidkun Quisling. Auch wenn ein faschistisches Europa dieser Tage mehr als unwahrscheinlich erscheint, lohnt sich ein Blick über den demokratischen Tellerrand. Denn die europäischen Antidemokraten thematisierten bereits damals Probleme, die auch heute größte Relevanz besitzen. Denkanstöße und unkonventionelle Ideen finden sich hier zuhauf.
Die vorhergegangenen Zeilen haben versucht aufzuzeigen, welche Visionen in der europäischen Historie entwickelt wurden, um einen paneuropäischen Bundesstaat als staatliche Alternative zu etablieren. Doch wieso sollte die europäische Rechte überhaupt für einen solchen Bundesstaat ringen? Die eingangs erwähnte Ohnmacht der rechten Intelligenz spiegelt sich vor allem darin wider, daß sie sich bereits seit geraumer Zeit nicht dazu in der Lage zeigt, neue Visionen und Denkanstöße zu erarbeiten, die den Diskurs und schlußendlich auch die Tat für das eigene Milieu reformieren. Auch wenn die eigene nationale Geschichte vielerlei Facetten bereithält, von denen es zu lernen gilt, sind es nicht die Kämpfe des vergangenen Jahrhunderts, die dieser Tage erneut ausgetragen werden müssen. Allzu oft orientieren sich rechte Ideen und Projekte an festen und starren Mustern, die mittlerweile zu Dogmen geworden sind. Eines davon ist definitiv der Nationalstaat als Heiligtum und sicherer Garant für die nationale Identität. Doch der Diskurs steht still, dreht sich im Kreis. Wie finden wir zurück zum Nationalstaat? Welche Wege gilt es zu wählen? Gibt es überhaupt ein Zurück? Nur sehr wenige Rechte sind tatsächlich bereit, die Scheuklappen abzulegen, um sich für neue Visionen zu öffnen. Dabei ist es doch vor allem die Europafrage, also die Frage danach, wie sich rechtskonservative Kräfte die Zukunft Europas und deren Gestaltung vorstellen, die dieser Tage im Mittelpunkt der rechten Überlegungen stehen sollte.
Die Europawahl 2014 hat erdrutschartig gezeigt, daß es in vielen europäischen Gesellschaften brodelt. Mit den verblüffenden Ergebnissen in Frankreich, Großbritannien und Dänemark, wo eurokritische Parteien die Mehrheit der Stimmen auf sich vereinigen konnten, setzten die jeweiligen Völker ein so klares wie radikales Zeichen, daß sie mit der Politik der Herrschenden aus Brüssel und Straßburg nicht mehr zufrieden sind. Doch auch in Österreich, Belgien, Ungarn, den Niederlanden, Griechenland und Italien erzielten eurokritische Parteien hervorragende Ergebnisse. Es brodelt in ganz Europa.
Folgerichtig wäre es nun an der Zeit, von rechter, eurokritischer Seite, einen umfassenden Plan, eine europäische Vision zur Lösung der Europafrage anzubieten. Was jedoch aus den Denkfabriken der europäischen Rechten emporsteigt, ist dürftig. Besonders die eurokritischen Parteien sind es, die sich seit Jahren auf schlichter Kritik der Europäischen Union und ihrer Institutionen ausruhen: EU beseitigen, Rolle rückwärts zum Nationalstaat und Grenzen sichern. Die europäische Rechte hat sich zu lange auf einer euro-, vielleicht sogar europakritischen Meinung ausgeruht. Neue Konzepte müssen her, Visionen wieder geträumt und erdacht werden dürfen.
Eine dieser Visionen ist ein gemeinsamer europäischer Staat, der dem Willen freier Völker entspringt und nicht Produkt einer Zwangskollektivierung ist. Jener Staat muß den Völkern Europas dienen, ihre Probleme und Notlagen an der Wurzel packen und vor allem grundlegende und lebensnotwendige Angelegenheiten für die Zukunft meistern. Während die EU über die Krümmung von Gurken berät und entscheidet, muß ein neuer, ein junger europäischer Staat die Lebensgrundlagen der Europäer verteidigen, Massen- und Armutseinwanderung unterbinden, ein wirtschaftliches Bollwerk gegen die aufstrebenden Schwellenländer aufziehen, einen funktionierenden Binnenmarkt schaffen und vor allem alte europäische Werte wieder aufleben lassen, ergo für die tradtionelle Familie eintreten und dem Aussterben vieler europäischer Völker entschieden entgegentreten. Denn ein europäischer Staat steht nicht für eine ethnische Bruchlinie, Auflösung der Völker oder Verlust nationaler Traditionen, er bildet nur den Rahmen, in dem freie, homogene Völker für eine gemeinsame Zukunft zusammenarbeiten können.
Es sind jedoch nicht nur programmatische, ideelle Gründe, die für einen europäischen Bundesstaat sprechen. Auch ganz pragmatisch bietet ein solcher Staat entscheidende Vorteile für die jeweiligen europäischen Völker. Es mutet doch paradox an, wenn die Bundesrepublik Deutschland entscheidet, aus der Atomenergie auszusteigen, Polen und Tschechien jedoch neue Meiler an unsere Grenzen setzen. Die immensen Flüchtlingswellen Afrikas, die in den vergangenen Monaten die italienische Hafenstadt Lampedusa erreichten, verbreiteten sich in Folge über den ganzen europäischen Wohlstandsapparat. Es wurde so schnell und schmerzhaft klar, daß die Flüchtlingswellen kein rein italienisches Problem sind, sondern unmittelbar ganz Europa betreffen. Die Causa Lampedusa und die zusätzlich zu erwartenden Ströme aus dem Osten, vornehmlich Zigeuner, machen auf drastische Weise deutlich, daß Europa in den entscheidenden Zukunftsfragen, also besonders in der Asyl-, Energie-, Militär- und Sicherheitspolitik, dringend eine gemeinsame Linie, eine enge Zusammenarbeit begründen muß.
Viele solcher Beispiele sind es somit, die unmißverständlich zeigen, wie irrsinnig nationale Alleingänge auf verschiedenen Gebieten dieser Tage sind. „Die EU mischt sich überall dort ein, wo sie besser die Finger von lassen sollte. Ein einheitliches Europa fehlt gerade aufgrund der Bürokratiementalität. Aufgaben, die Europa gemeinsam meistern müßte, wie eine einheitliche Umwelt- oder Sicherheitspolitik, bleiben auf der Strecke. Stark ist die EU nur im Umverteilen (Transferunion), Reglementieren (Anti-Diskriminierungsgesetze) und der ideologischen Beeinflussung (z. B. Gender Mainstreaming für die Balkan-Beitrittskandidaten).“ umreißt Felix Menzel die derzeitige Situation der EU in Junges Europa. Szenarien des Umbruchs.
Ein neuer, junger, gemeinsamer europäischer Staat muß hier natürlich andere Wege gehen. Er muß in erster Linie nur dafür zuständig sein, die entscheidenden und zentralen Lebensgrundlagen der europäischen Völker zu sichern, so daß diese ihre eigene ethnische Homogenität, ihre nationale Kultur und Identität sowie ihre wirtschaftlichen Grundlagen und geistige Freiheit weitestgehend gesichert wissen können. Jener Staat kämpft stets um das Grundlegende, das Überleben und Erstarken der europäischen Völker als Einheit gegen Bedrohungen von innen und außen. Vor 1945 war es die Bedrohung des sowjetischen Bolschewismus, die Politiker, Denker und Schriftsteller zu überzeugten europäischen Vordenkern machte. Heute sind es andere Probleme und Einflüsse, die jedoch im Kern ein ähnliches Problem beinhalten. Die Bedrohungen von außerhalb sind enorm. Sie kommen heutzutage wirtschaftlich daher, seltener in Form realer Waffen und Kriege. Doch auch von innen verrottet Europa. Dekadenz, Maßlosigkeit, geistige Ohnmacht, das Gefühl der Leere und der Wut sowie eine erdrückende Hilflosigkeit lähmen den europäischen Körper und Geist. Es ist ein quasi unsichtbarer Feind, gegen den es dieser Tage anzukämpfen gilt.
Eine Renaissance der Werte und Moral, somit eine Zerschlagung der dekadenten Verhältnisse, die Befreiung aus der großen westlichen Ohnmacht, ist nur dann möglich, wenn Europa einheitlich an einem Strang zieht und die gemeinsame europäische Geistestradition wieder in den Mittelpunkt der politischen und kulturellen Arbeit stellt. Der Nationalstaat hatte ohne Frage seine Zeit, seine Berechtigung und selbstverständlich auch seine Stärken und Vorteile. Die wohl bitterste Pille, die es für die rechtskonservativen Kräfte Europas jedoch nun zu schlucken gilt, ist die anhand verschiedenster Beispiele gezeigte Erkenntnis, daß die Zeit der einzelnen, mächtigen Nationalstaaten zunächst ihr Ende gefunden hat. Freilich erhebt dieses Urteil keinen Anspruch auf ewig währende Richtigkeit. Die Zeit der Nationalstaaten mag wiederkehren, doch die aktuellen, einzigartigen und stürmischen Zeiten verlangen nach einer neuen, einer anderen Lösung. Ob Indien, China, Brasilien, die vergleichsweise kleinen und geburtenschwachen Völker Europas können als einzelne Nationalstaaten kein Gegengewicht zu diesen aufstrebenden Staaten bilden. Der weltweite Handels-, Finanz- und Börsenmarkt ist mittlerweile so undurchsichtig vernetzt und übermächtig, daß einzelne Nationalstaaten von ihm zerrieben werden. Nur ein gemeinsames Europa der freien Völker kann ein wirtschaftliches, finanzstarkes, kulturelles und politisches Bollwerk zum Schutz seiner eigenen Interessen errichten. Dieses Bollwerk ist bitter nötig, wollen Europa und seine einzelnen Völker den laufenden Verfall noch irgendwie aufhalten. Es sei erneut unterstrichen: Ein gemeinsames Europa, ein wahrhaftiger europäischer Bundesstaat, steht keinesfalls synonym für eine Aufweichung der ethnischen Homogenität oder den Verlust der nationalen Traditionen und Werte. Er bildet lediglich den nötigen staatlichen Rahmen, um den Verfall Europas zu stoppen und die inhärenten Völker zu alter Größe zurückzuführen. Europa muß wieder ein Konservierungsraum für Kultur, Wissen und Moral werden. Ohne einen gemeinsamen staatlichen Rahmen wird dieses Unterfangen scheitern.
Der Weg zu einem solchen Europa scheint unrealistisch, romantisch, gar jugendlich kühn und voller Übereifer. Doch wer wären wir, würden wir nicht das unendlich Unwahrscheinliche wagen? Wer ein neues, ein junges Europa für romantisches Geträume weniger hält, sollte sich zunächst fragen, ob nicht auch der klassische Nationalstaat und seine Realisierung einst kühne und waghalsige Visionen junger, mutiger Männer voraussetzten und diese nicht auch von den damaligen etablierten Kräften belächelt wurden. Nach Ernst Jünger ruht unsere Hoffnung in den jungen Leuten, die an Temperaturerhöhung leiden. Europa leidet derzeit an den verkrusteten und geistig Alten, die den Weg für eine neue Ordnung versperren. Giuseppe Mazzini, der um 1830 eine europäische Widerstandsbewegung, das Junge Europa, gründete und dafür von den Herrschenden verfolgt wurde, fand für die nötige europäische Temperaturerhöhung der jungen Generation die passenden Worte: „Wir sind nicht nur Verschwörer, sondern Gläubige, wir wollen nicht nur Revolutionäre, sondern, soweit als möglich, Wiedererwecker sein.“
Felix Menzel/Philip Stein: Junges Europa. Szenarien des Umbruchs, Chemnitz 2013.
Junges Europa. Szenarien des Umbruchs HIER BESTELLEN
Philip Stein, Jahrgang 1991, freier Autor, seit 2011/12 Student der Geschichte und Philosophie an der Philipps-Universität Marburg, Mitglied der Marburger Burschenschaft Germania.