Schon als Schüler hatte er sich ein Los gekauft und fiebernd auf den Hauptgewinn gehofft. Schon damals ahnte er, daß sich sein Leben nur durch ein gewaltiges Ereignis von außen noch zum Guten wenden konnte. Die Erwachsenen mahnten zwar zu regelmäßiger Arbeit und unermüdlichem Fleiß, doch durch solche Eigenschaften ist noch nie etwas Großes erreicht worden. Das Große kommt wie ein Blitz vom Himmel und reißt alles mit sich fort. Bürgerliche Verpflichtungen und Bedenken sind dann völlig zweitrangig.
Als im August 1914 der Erste Weltkrieg ausbrach, war es für Adolf Hitler wie eine Erlösung. Zwar handelte es sich nicht um den ursprünglich erhofften künstlerischen Durchbruch. Dennoch fühlte Hitler sich durch das Ereignis bestätigt und in eine höhere Sphäre gehoben. Der innere Jubel, der ihm auf der zufälligen Photographie vor der Feldherrnhalle deutlich anzusehen ist, bezieht sich nicht so sehr auf die politischen Hintergründe des Kriegsausbruchs. Was ihn in einen Freudenrausch versetzt, ist die Aussicht, daß sich sein eigenes Leben nun einschneidend verändern wird.
Diese Empfindung teilt der Deklassierte mit vielen jungen Deutschen, denen es materiell viel besser geht und deren Chancen im bürgerlichen Leben noch keineswegs vertan sind. Ernst Jünger zum Beispiel hatte bereits einige Jahre vor Kriegsbeginn sein Elternhaus verlassen, um in der Fremdenlegion zu dienen (nachzulesen in „Afrikanische Spiele“). Der Vater brachte seinen siebzehnjährigen Sohn bald nach Hause zurück, doch 1914 konnte ihn und seine Klassenkameraden nichts mehr aufhalten.
Woher kommt dieser Überdruß gegenüber einem „normalen Leben“, wie die Eltern es führen? Vielfach wird behauptet, daß eine „nationalistische und militaristische“ Regierung den jungen Leuten ihre Kriegsbegeisterung eingeredet hätte. Sicher kann man Jugendlichen manches einreden, was dann zu ihrem Verderben führt. So war es mit der Jugend der 1960er und 1970er Jahre, die massenhaft zum Heroin griff. Wieder äußert sich Ernst Jünger zum Thema in „Annäherungen. Drogen und Rausch“ (1970). Es gibt sicherlich eine Parallele, denn auch vom Krieg erklärte der Schriftsteller: „Er hatte uns gepackt wie ein Rausch“ (In Stahlgewittern 1920). Es geht um die „Sehnsucht nach dem Ungewöhnlichen, nach der großen Gefahr“. Und diese Sehnsucht hat die Jugend zu allen Zeiten ergriffen.
Während ältere Leute sich ans Leben klammern wie an jede Gewohnheit, besteht in der Jugend die Bereitschaft, alles hinzuwerfen und das eigene Leben schon für eine schnelle Autofahrt zu riskieren. Man braucht sich über die Kriegsbegeisterung von 1914 daher nicht zu wundern. Der junge Mensch ist erfüllt von einer Ahnung, daß hinter dem nächsten Horizont immer noch ein schöneres Land liegt. Seine Furcht geht nur dahin, diesen Aufbruch zu versäumen. „Ach, nur nicht zu Haus bleiben. Nur mitmachen dürfen!“ heißt es bei Ernst Jünger. Hier geht es weniger um die patriotische Pflicht, sondern um das große Abenteuer. Es ist der Drang der Jugend, Grenzen zu überschreiten und Gipfel zu erklimmen. Das beinhaltet auch den Tod als äußerste Grenze. Begriffe wie Heldentum, Ruhm und Ehre umschreiben dieses diffuse Jenseits.
Das jugendliche Gehirn hat eine höhere Durchlässigkeit. Die Ich-Grenzen sind noch nicht so starr, die Bereitschaft zum Aufgehen einerseits in der Gemeinschaft, andererseits in einer höheren Idee ist gesteigert. Und das hängt nicht von einer bestimmten Kultur ab, sondern ist alterstypisch und sicher biologisch begründet. Nicht zufällig trägt eine der erfolgreichsten Bands den Namen „The Doors“. Die Jugend sucht immer nach einer Tür, einem Ausgang, einer Fluchtmöglichkeit vor dem, was die Erwachsenen „Realität“ nennen. Hinzu kommt der Einfluß des männlichen Hormons Testosteron, das zu einer gewissen Aggressivität, einer Kampfbereitschaft führt, nicht nur bei jungen Türken und Arabern heute, sondern auch bei den Deutschen, die sich 1914 in Scharen freiwillig meldeten.
Wegen des Geburtenrückgangs nimmt die Zahl junger Deutscher inzwischen ab. Das hat nicht nur einen Mangel an Rentenzahlern und an Arbeitskräften zur Folge, sondern es verändert auch die allgemeine Stimmung. Die Abenteuerlust geht insgesamt zurück, und die Sorge um die eigene Sicherheit wird größer. Wenn Geburtenrückgang und Überalterung eine Folge der Zivilisation sind, so führen dieselben Erscheinungen wieder zu einem größeren Bedürfnis nach Zivilisation. Ein Teufelskreis. Das gleiche gilt für das Verdikt gegen jedes Anzeichen von Männlichkeit. Die Vitalität schwindet, und die Abschaffung des Wehrdienstes, der eine massenhafte Verweigerung lange voranging, ist deutliches Zeichen davon. Allerdings beschränkt sich das Defizit an Vitalität nicht auf das Militärische. Auch die Konzerne haben erkannt, daß jüngere Leute (trotz finanzieller Knappheit) eher zum Kauf neuer Produkte neigen als die älteren. Es ist eine umfassende Risikobereitschaft, die aus einem Mehr als Lebenslust und Lebenskraft resultiert.
Das Geheimnis der Jugend weist zurück auf archaische Zeitalter, als der Mensch insgesamt „jung“ und mit seiner Umgebung viel stärker verbunden war als der individualistische Zivilisationsmensch. Mit den Ahnen fühlte er sich eins und von den Göttern ständig begleitet, so daß der eigene Tod gar nicht die Bedeutung hatte, die man ihm heute zuschreibt. Durch entsprechende Kriegsgesänge und -tänze oder auch durch die Kriegsbemalung in einen Rauschzustand versetzt, warfen sich unsere Vorfahren in den Kampf ohne Gedanken daran, was sie verlieren konnten. Und was hatten sie auch schon zu verlieren? Ein kurzes und schweres und karges Leben. Umgekehrt eröffnete der Kampf besondere Ehren und eine Verbesserung der materiellen Situation. Wer schon alles besitzt, und wem achtzig Lebensjahre durch die Medizin quasi garantiert sind, überlegt es sich hingegen zweimal, ob er sein bequemes Polster gegen einen feuchten Unterstand eintauscht. Auf dieser Basis wird der Krieg dann pauschal für „sinnlos“ und „barbarisch“ erklärt.
In der Tat handelt es sich beim Krieg um den Rückfall in einen Naturzustand. Denn „normal“ im Sinne von naturgemäß (artgemäß) sind nicht Wohlstand, Sicherheit und das Vertrauen gegenüber Fremden. Naturgemäß ist der Kampf ums Dasein, der sich jederzeit auch gegen Konkurrenten richtet. Wie es der russische Dichter Iwan Gontscharow formuliert: „Furchtbar und unsicher war das Leben des Menschen von damals. Es bedeutete ihm eine Gefahr, über des Hauses Schwelle zu gehen; ein wildes Tier hätte ihn sofort greifen, ein Räuber ihn töten können; der böse Tartar würde ihm alles nehmen, oder er könnte spurlos und für immer verschwinden.“
Auch die Vorstellung, daß die Tiere „nur töten, um zu überleben“, stimmt nicht ganz. Auf „Arte“ lief vor wenigen Wochen ein Beitrag mit dem Titel „Krieg der Ameisen“. Geschildert wird, wie eine kleine Ameisenart aus Argentinien, durch Schiffe nach Europa eingeschleppt, fast alle einheimischen Ameisen in Spanien bereits ausgerottet hat und nun auf Italien übergreift. Gezielt greifen die „Argentinier“ die Siedlungsgebiete der anderen Ameisen an, töten diese, insbesondere die Königin, und bald wimmeln dort nur noch die kleinen roten Eroberer.
Diese Aggressivität ist allerdings eine Ausnahme. Ein Rudel von Tieren begibt sich nur dann auf den Kriegspfad gegen Artgenossen, wenn das eigene Revier nicht mehr genug Nahrung hergibt, wenn also die Situation des „Volk ohne Raum“ eintritt. Oder aber, wenn Fremde von außen eindringen und deren Integration keinen Vorteil bringt. Dann kommt es zum Kampf auf Leben und Tod. Eine Beißhemmung der eigenen Art gegenüber besteht nicht.
Den Menschen muß man mit Blick auf seine Geschichte als besonders kriegerische Tierart bezeichnen. Da ist es nicht die Ausnahme, sondern die Regel, wenn das gute Auskommen aufs Spiel gesetzt wird, um neue Eroberungen zu machen. Dem Menschen genügt es vom Wesen her nicht, bloß sein Leben zu fristen wie ein Tier. Er verspürt in sich den Drang zur Weiterentwicklung. Friedrich Nietzsche bezeichnet diesen Trieb als „Willen zur Macht“ und wendet sich gegen die Darwinisten, die den Menschen auf einen „Lebenswillen“ reduzieren wollten. Es ist spezifisch menschlich, wenn ein Staat, der sich dazu in der Lage sieht, unterlegene oder konkurrierende Staaten gezielt angreift, um mit Hilfe der eroberten Gebiete, Rohstoffe und Arbeitskräfte seine Macht zu erweitern. Dahinter steht ein Bewußtsein der eigenen Überlegenheit. Und tatsächlich verbreiten sich auf militärischem Wege die überlegenen Techniken, Institutionen und Gedanken am schnellsten und sichersten. So muß kann man den vielzitierten Satz von Heraklit verstehen: „Der Krieg ist der Vater aller Dinge.“ Ohne Kriege verharrten rückständige Völker auf ihrem Status und könnten nicht von den Erfindungen der Sieger profitieren. Die Vorstellung, daß schwächere Völker freiwillig die überlegenen Verhaltensweisen annehmen, hat sich sowohl in den „Entwicklungsländern“ als auch in der Europäischen Gemeinschaft weitgehend als Illusion erwiesen. Statt dessen müssen die Stärkeren hier ständig Unterstützung leisten.
So ist die Verhinderung von Kriegen durch das Abschreckungspotential moderner Waffen nicht etwa ein Segen, sondern ein Fluch der Politik seit dem Zweiten Weltkrieg. Und wenn es einen guten Grund gab, den letzten Krieg zu wollen und zu betreiben, dann die vorauszusehende waffentechnische Entwicklung. Was passiert, wenn die wirtschaftliche Konkurrenz ausgeschaltet wird, hat man in den Ostblock-Staaten gesehen. Der Krieg ist aber nichts anderes als der Wettbewerb der Staaten untereinander. Bleibt dieser Wettbewerb aus, tritt Stagnation ein. Vitale Völker finden immer noch einen Schleichweg, um sich mit Gewalt durchzusetzen. Aber das sind keine regulären Kriege mehr, sondern gezielte „Aktionen“, bei denen man davon ausgehen kann, daß sie begrenzt bleiben. Jüngstes Beispiel ist Putin in der Ukraine.
Schon im Ersten Weltkrieg steht dem anfänglichen Kriegswillen bald eine Kriegserfahrung gegenüber, die traumatisierend ist. Wie sich viele Frauen nach der schmerzhaften Geburt eines Kindes schwören, nie wieder schwanger zu werden, und diese Schmerzen nach kurzer Zeit vergessen haben, war es bis dahin mit den Schrecken des Krieges gewesen. Nach Ablauf einer Frist gerieten die negativen Erfahrungen in Vergessenheit, und schon blies man erneut fröhlich zu den Waffen. Mit dem Ersten Weltkrieg änderte sich das. Hier übte nicht mehr der Mensch das „Kriegshandwerk“ zu eigenen Zwecken aus, sondern der Krieg wurde zu einer Gewalt, die der Hand des Menschen anscheinend entglitten war. Das Unheimliche der modernen Technik gelangte in den „Materialschlachten“ zum vollen Durchbruch. Der nächste Schritt kam am Ende des Zweiten Weltkrieges mit Hiroshima und Nagasaki. Damit ist die Kriegsgeschichte im bisherigen Sinne an ihr Ende gelangt. Wolf Schneider hat gerade einen „Nachruf“ auf den Soldatenstand vorgelegt: „Der Soldat, eine Weltgeschichte von Helden, Opfern und Bestien“ (Rowohlt Verlag). Die Ära des Soldaten, wie wir ihn kennen, geht demnach zu Ende. Fürs Töten zuständig sind nun Söldner, Partisanen, Selbstmordattentäter oder eine Handvoll menschlicher Kampfmaschinen wie die „Navy Seals“. Daher ist das Bestehen auf der allgemeinen Wehrpflicht trotz allem falsch. Wenn auf Dauer kein Krieg mehr stattfindet, wird die Armee zur gigantischen Simulation. Es muß ein Umbau gemäß der veränderten Bedingungen stattfinden.
Das Verschwinden des Krieges als Teil der Politik und Geschichte wirft gleichwohl Probleme auf und müßte kompensiert werden. Voraussetzung dafür ist allerdings die Einsicht, daß Kriege etwas Normales sind, das durch die Hochtechnisierung verkompliziert oder verunmöglicht wird. Es geht hier ähnlich wie mit anderen normalen Lebensfunktionen (zum Beispiel der Fortpflanzung). Die herrschende Ideologie stellt es jedoch umgekehrt dar: daß wir durch die Zivilisation erst zu dem gefunden hätten, was dem Menschen gebührt. Man braucht sich über diese Ideologie nicht zu wundern, denn sie gehört als „Überbau“ zu der zunehmenden Technisierung.
Vor hundert Jahren war man an den Zustand der „Entartung“ noch nicht so gewöhnt und begehrte dagegen auf. Der Schriftsteller Thomas Mann pries den Krieg als „Veredelung“ des Charakters. Gemeint ist die Abhärtung und Stärkung gegenüber den zivilisatorischen Versuchungen. Im Roman „Der Zauberberg“ nistet sich ein junger Mann als Simulant in einem eleganten Sanatorium ein, und sieben Jahre gelingt es ihm nicht mehr, sich aus diesem Bann zu befreien. Erst der Krieg macht dem Spuk ein Ende. Ob der blonde Hans den Krieg überlebt, erfährt der Leser nicht. Im Sanatorium jedenfalls war er bei lebendigem Leib schon verfault.
Von Graf Ciano soll das Wort stammen: „Faschismus ist die Sehnsucht nach dem Krieg.“ Eine Sehnsucht nach dem Krieg trägt aber die Zivilisation immer in sich. Bei der Schilderung von Kriegsgreueln übersieht man häufig, daß der moderne Alltag selbst eine unterschwellige Belastung, eine leise Qual für den Menschen darstellt, der nicht für Bürostühle und Telefone gemacht ist, sondern für die Wildnis. Was Soldaten dazu bringt, ihre Erinnerungen zu verklären, ist nicht nur die „Kameradschaft“, sondern auch die Entlastung von tausend Entscheidungen und ein Leben von Tag zu Tag, im Augenblick und konfrontiert mit ganz konkreten Situationen. Wie ein Wolf im Rudel hat jeder nur seinen nächsten Vorgesetzten vor Augen und in der Nase die Gerüche von Blut und Erde. Die Haut ist verdreckt, aber niemals war der Augenblick des Ausruhens kostbarer, das Gefühl, für diesmal gerettet zu sein und weiter nicht denken zu müssen. So sieht das ursprüngliche, das eigentliche Leben aus, und durch das Kriegserlebnis wird diese Erbschaft im Zivilisationsmenschen wieder erweckt. So werden die wenigen Jahre an der Front für ein langes Leben zu einem heimlichen Zentrum, einem Kraftquell, der bis ins hohe Alter nicht versiegt.
Der Krieg war immer ein Fluchtpunkt aus der Bürgerwelt, und man kann leicht darüber spotten, da heute jederzeit elektronische Wege offenstehen, um sich auf bequeme Weise die Illusion der Flucht zu verschaffen. Was sind die vielen Filme und Spiele anderes als eine Flucht aus dem Alltag? Von den Rauschmitteln nicht zu reden. Es ist nun einmal so, daß der Mensch die sogenannte Normalität nur schwer ertragen kann und unter ständigem Leidensdruck steht, gerade wenn keine unmittelbaren Gefahren drohen. Da die Ursache in der Evolution liegt, läßt es sich auch mit Vernunft nicht abstellen. Wo keine kriegerische Betätigung mehr möglich ist, bilden sich Ersatzhandlungen, von denen Computerspiele noch die harmlosesten sind.
Nicht erst Carl Schmitt sah im „Ausnahmezustand“ (Ernstfall) die heimliche Grundlage jeden Staates. So erklärte der Philosoph Max Scheler im Herbst 1914:“Jeder Krieg ist Rückkehr auf den schöpferischen Ursprung, aus dem Staat überhaupt hervorging; Untertauchen in die mächtige Lebensquelle, aus der heraus die großen Grenzlinien bestimmt werden, in der sich menschliches Geschick und Betätigung fernerhin bewegen kann.“
Auch innenpolitisch bleibt die physische Gewalt (Gefangennahme, Einsperren) unabdingbare Voraussetzung für jedes Gemeinwesen. Sonst würden die Asozialen alle gemeinsamen Werte in kurzer Zeit zerstören. Solche „Asozialen“ wären auf internationaler Ebene die sogenannten „Schurkenstaaten“. Auch wenn man die „Missionen“ der USA für verfehlt hält, ist die Bezeichnung nachvollziehbar. Mit Berufung auf Carl Schmitt taucht auf konservativer Seite immer wieder die Behauptung auf, daß die politische und militärische Feindschaft ursprünglich mit keiner moralischen Wertung verbunden sei. Die Kontrahenten bekämpfen sich zwar bis aufs Blut, aber sie hegen keinerlei Groll gegeneinander und erkennen die jeweiligen Qualitäten ritterlich an. Vielleicht hat es solche Kriege gegeben, die Regel waren sie jedoch niemals. Die Regel hat immer darin bestanden, die eigenen politischen Interessen als objektive Wahrheit und Gerechtigkeit auszugeben („bellum iustum“) und den Gegner als Inbegriff der Schlechtigkeit hinzustellen. Die Moralisierung außenpolitischer Konflikte gehört zum Krieg seit jeher dazu. Man kann davon ausgehen, daß schon in der Steinzeit mit magischen Verwünschungen und bösen Unterstellungen gegen die benachbarte Horde zu Felde gezogen wurde, der man eigentlich nur die Vorräte oder die Frauen wegnehmen wollte. Es ist ein gesunder Instinkt, der den eigenen Kampfesmut aufstachelt. Eventuell gelingt es sogar, dem Gegner ein schlechtes Gewissen einzuflößen. Der Haß ist die stärkste Waffe, und darauf will keiner verzichten.
Es ist merkwürdig, wie Schmitt und seine Anhänger ausgerechnet dem Liberalismus zuschreiben, die moralische Verurteilung des Gegners erfunden zu haben. Richtig ist, daß in den modernen Ideologien noch genau die gleichen Affekte wirksam sind wie in den alten Glaubenskriegen. Für den Liberalismus ist der Kommunismus „des Teufels“, und neuerdings gilt der Islam als „Reich des Bösen“, ganz abgesehen von der Dämonisierung des Nationalsozialismus oder anderer „rechter“ Bestrebungen. Daraus leitet sich bei den USA das Recht zur gnadenlosen Bekämpfung jedweder Regierung ab, die „gegen die Freiheit“ auftritt. Das ist aber keineswegs typisch für den Liberalismus, sondern für jede kämpferische Religion oder Ideologie. Der Trojanische Krieg geht bekanntlich auf den Raub der Helena zurück, also auf einen Frevel, der nach Rache schreit. Sicherlich stecken auch reale Interessen dahinter, doch der Mensch verlangte schon immer nach politischen Mythen. Und daran hat sich bis heute nichts geändert.
Es drängt sich der Verdacht auf, daß die Polemik gegen „moralisierende“ Standpunkte auf ein Defizit in der eigenen Weltanschauung zurückzuführen ist. Wer gegen Moral in der Politik argumentiert, will vielleicht seinen eigenen Nihilismus schönreden, die Unfähigkeit, die eigene Position mit religiösen oder philosophischen Argumenten zu stützen. Oder zumindest die Scheu, die eigenen grundlegenden Rechtfertigungen vorzubringen. Die These könnte lauten: weil Schmitt insgeheim auf einer theologischen Rechtfertigung beharrt, sich jedoch nicht dazu bekennen will, lehnt er eine tiefgehende Rechtfertigung überhaupt ab. Krieg wird dann zu einem sportlichen Wettkampf auf der Basis von Fairness und mit einem unparteiischen Schiedsrichter. Ein Fußballspiel hat aber mit Krieg nichts zu tun – auch wenn die Fans manchmal den Eindruck machen.
Man muß allerdings zugeben, daß der Nationalismus allein das Opfer von Menschenleben nicht legitimieren kann. Das kann nur die Religion. Das soldatische Ethos funktioniert nur auf der Basis des christlichen Abendlandes, der islamischen Kultur oder irgendeiner Stammesreligion, aber nicht in einem atheistischen Rahmen. Der Atheismus beharrt zwangsläufig auf der absoluten Geltung des eigenen Lebens und macht die Feigheit zur einzigen Klugheit. Im Ersten Weltkrieg gab es noch den Befehl „Helm ab zum Gebet“. Im Widerspruch dazu steht allerdings die vielzitierte Behauptung von den Soldaten mit ihrem „Zarathustra“ im Tornister. Religiös handelte es sich sicher um eine Übergangsphase. Wenn Joseph Goebbels in seiner Sportpalast-Rede formuliert: „Wir ziehen in diesen Kampf wie in einen Gottesdienst“, so meint er nicht mehr den christlichen Gott.
Das stärkste Argument gegen den Krieg sind nicht die Gefallenen, sondern die Kriegsversehrten. Nach dem Ersten Weltkrieg werden sie noch brutal als „Kriegskrüppel“ bezeichnet und sind an den Straßenecken bettelnd oder mit dem Leierkasten zu sehen. Wer im Gesicht eine Verletzung durch Granatsplitter bekam, mußte unzählige Male operiert werden, um dennoch wie Frankenstein auszusehen. Während die Gefallenen auf eine „stolze Trauer“ und auf Gedenksteine hoffen können und sich bei ihren Familien (so ist der Mensch) die Lücke langsam schließt, tragen die „Kriegskrüppel“ ein Elend, das nicht endet und jeden Heroismus, sogar die Verbindung mit dem Kampf verloren hat. Nie ist diese Problematik eindrucksvoller dargestellt worden als in dem US-Spielfilm „Geboren am 4. Juli“ von Oliver Stone (1989). Ein blutjunger Amerikaner meldet sich begeistert zu den „Marines“, um in Vietnam zu kämpfen. Die Einwände seiner Freunde gegen diesen Krieg weist er mit flammendem Patriotismus zurück. Wäre der Junge gefallen, so hätte man einen wunderbaren Helden gehabt (mit dem attraktiven Äußeren von Tom Cruise). „Leider“ fällt er nicht, sondern wird mit einer schweren Verletzung nach New York in das dortige Hospital für Vietnam-Soldaten gebracht. Bald zeigt sich: das Interesse der Nation an gesunden Kämpfern ist groß, das Interesse an Kriegsinvaliden ist gering. Es herrscht Unsauberkeit, und unser Held muß erfahren, daß er für immer im Rollstuhl sitzen wird. Nun setzt eine Entwicklung ein, an deren Ende ein engagierter Agitator gegen den Vietnam-Krieg steht. Die Invalidität ist eindeutig die Schwachstelle dessen, was die Römer als „virtus“ bezeichneten: als höchste Tugend.
Ausgerechnet am Tag des Gender-Grand-Prix wird in Berlin auf offener Straße eine junge Frau überfallen. Das mutige Eingreifen eines Passanten kann die Vergewaltigung gerade noch verhindern. Der Retter in der Not ist ein Offizier mit Afghanistan-Erfahrung. In manchen Situationen weiß man soldatische Tugenden noch zu schätzen. Nämlich dann, wenn uns physische Gewalt direkt entgegentritt. Und womöglich in Gestalt des anderen Geschlechts und der fremden Rasse. Da hilft keine humanitäre Phrase, da hilft nur Kampfbereitschaft.