Auch an den Universitäten waren die 68er nicht so erfolgreich, wie es scheinen mag. Als wegweisend galt damals Georg Lukács mit seinem Buch „Die Zerstörung der Vernunft“. Akribisch ist dort aufgelistet, welche Teile des deutschen Geisteslebens vor 1933 den „Faschismus“ angeblich vorbereitet hätten. Entsprechend forderten die Linken den Abschied von allen „irrationalistischen“ Strömungen. Doch die Herrschaft der marxistischen Theorie in den Geisteswissenschaften währte nicht lange. Schon Ende der 70er Jahre wurde es den Professoren zu langweilig. Zumindest einige unterliefen die gerade eingeführten Denkverbote der Linken und griffen Themen wieder auf, die weit unten im Giftschrank der „bürgerlichen Wissenschaft“ lagerten.
Einer dieser ketzerischen Philosophen war Hans Blumenberg. Das Thema, das er unerschrocken ausgegraben hat, ist der Mythos. 1979 erschien sein umfangreiches und hochgelehrtes Werk „Arbeit am Mythos“ im Suhrkamp-Verlag. Seitdem – so darf man wohl feststellen – ist der Mythos wieder im Gespräch. Der Begriff wurde nicht mehr automatisch mit Alfred Rosenbergs „Mythus des 20. Jahrhunderts“ (1931) assoziiert und verteufelt. „Mythos bedeutet Irrationalismus, und Irrationalismus ist Faschismus.“ So lautete die Gleichung der 68er. Doch Blumenberg nimmt Rosenberg als Dilettanten kaum zur Kenntnis. Umso interessanter ist die Frage: Was bedeutet „Mythos“ im Sinne von Blumenberg, also in einem modernen und sogar liberalen Sinne?
Ganz abstrakt heißt es: „Der Mythos antwortet auf die Komplexität und Kontingenz der Welt, indem er den Absolutismus der Wirklichkeit in konkurrierende Gewalten teilt.“ Unter Geisteswissenschaftlern wurde das sehr wohl verstanden: „Komplexität und Kontingenz der Welt“ meint die Unfähigkeit des Menschen, die Welt zu begreifen. Das ist nicht trivial, denn Philosophen wie Hegel und vor allem Marx hatten im Gegenteil behauptet, daß die Welt im Zuge des Fortschritts wissenschaftlich ganz erfaßbar wird. Und mit dieser Annahme treten auch die linken Weltverbesserer auf. Blumenberg bricht mit solchem Bildungsoptimismus, und deshalb kann er wieder vom Mythos sprechen. Der Mythos ist demnach ein Mittel, um das übermächtige Unbegreifliche („den Absolutismus der Wirklichkeit“) in verschiedene Rollen aufzuteilen und Handlungen spielerisch durchzuprobieren, um Leitbilder für das eigene Leben zu finden. Die „Arbeit“ besteht dann in der Abwandlung der Mythen im Verlauf der Geschichte. Mit seinen vielen Gestalten und Geschichten sei der Mythos immer pluralistisch, behauptet Blumenberg, und daher auch liberal. Die „Gefahr“, die hier von der Linken gewittert wird, beziehe sich nicht auf den Mythos selbst, zum Beispiel den griechischen mit Prometheus, Odysseus, Sisyphos, sondern nur auf dessen Mißbrauch. Mit einem gewissen Triumph erklärt Blumenberg: „Nichts hat die Aufklärer mehr überrascht und ungläubig vor dem Scheitern ihrer vermeintlich letzten Anstrengungen stehen lassen als das Überleben der verächtlichen alten Geschichten, der Fortgang der Arbeit am Mythos.“
So einfach ließ man den Professor aus Münster aber nicht davonkommen. Vor allem Jacob Taubes kritisierte, daß Blumenberg die Mythen nur als ästhetische Gebilde betrachtete. Die „Arbeit am Mythos“ bezieht sich stets auf Kunstwerke, in denen mythische Stoffe dargestellt sind. Bei den archaischen Mythen hingegen handele es sich um Glaubensinhalte, die von einer ganzen Gemeinschaft geteilt werden. Damit sind sie keineswegs liberal, sondern wirken „dogmatisch“ und bindend. Von diesem Verständnis der Frühzeit führt der Weg zu den modernen politischen Mythen, die wiederum nicht individuell und liberal sind, sondern totalitär. Und damit wären wir dann doch beim nationalsozialistischen Mythos und der davon ausgehenden Gefahr. „Es fragt sich, ob Blumenberg angesichts der Weiträumigkeit seiner anthropologischen These nicht auch die Alltagsmythen und die politischen Mythen hätte einbeziehen müssen, um zumal für die Moderne den Naturschutzpark der Kunst zu verlassen“, schreibt Götz Müller in seiner Rezension.
Es stimmt, daß Hans Blumenberg den politischen Aspekt in seinem Buch nicht behandelt hat. Wie sich inzwischen herausstellte, gibt es jedoch ein entsprechendes Kapitel, das der Gelehrte entworfen und aus bestimmten Bedenken zurückgehalten hat. Es fand sich nach seinem Tod 1996 und ist jetzt als Suhrkamp-Band unter dem Titel „Präfiguration. Arbeit am politischen Mythos“ aus dem Nachlaß erschienen. Wer den Text gelesen hat, wird die Bedenken nachvollziehen können. Zusammen mit den Analysen zu hochrangigen europäischen Kunstwerken sollten hier nämlich der „Mythos von Stalingrad“ und der „Mythos vom Werwolf“ in einer erstaunlich objektiven Sichtweise erscheinen. Mit anderen Worten: Blumenberg tritt in diesem posthumen Kapitel als „Hitlerversteher“ von besonderer Sensibilität auf. Er tut das, was Hitler und Goebbels, die beiden verhinderten Künstler, sich gewünscht hätten und begreift den „Untergang“ als Kunstwerk in der Art von Homers Ilias und damit als Teil einer „Präfiguration“.
Da bereits mehrere Texte aus dem Nachlaß von Blumenberg erschienen sind, hält sich das Aufsehen in Grenzen. Zudem handelt es sich bloß um einen Einblick in die Möglichkeiten, wie man die Zeit von Nationalsozialismus und Zweitem Weltkrieg mythisch deuten könnte. Blumenberg hat sich mit diesem Thema nicht zentral befaßt. Darum braucht er auch nicht zeitgeschichtlichen Mustern zu folgen. Was Staunen erweckt, sind Elemente aus der „Hitler-Folklore“, die unter dem Aspekt des Mythischen plötzlich wissenschaftliche Relevanz gewinnen.
„Das Phänomen der Präfiguration setzt voraus, daß die mythische Denkform als Disposition zu bestimmten Funktionsweisen noch oder wieder virulent ist.“ Das Mythische ist also weiterhin lebendig. Auch im 20. Jahrhundert hält sich diese Möglichkeit, und zwar deshalb, weil die Wirklichkeit „komplex und kontingent“, also nicht durchschaubar ist. „In der Präfiguration“, fährt Blumenberg fort, „geht die Mythisierung an die Grenze der Magie heran. Zunächst aber ist die Präfiguration nur so etwas wie eine Entscheidungshilfe: was schon einmal getan worden ist, bedarf unter der Voraussetzung der Konstanz der Bedingungen nicht erneuter Überlegung, Verwirrung, Ratlosigkeit, es ist durch das Paradigma vorentschieden.“
Als Beispiel wird zunächst Friedrich der Staufer genannt, wie ihn Ernst Kantorowicz darstellt, nämlich als mythische Figur, die eine Orientierung jenseits rational-positivistischen Denkens bieten soll. Damit ist schon der Zeitpunkt genannt, wo das Mythische im 20. Jahrhundert wieder aktuell wird, nämlich die 20er Jahre und speziell der George-Kreis. „Es fehlte fortan nicht an falschen Friedrichen“, warnt Blumenberg.
Dann kommt er auf Hitler. Bekanntlich unterschreibt dieser den Waffenstillstand nach dem Sieg über Frankreich in demselben Salonwagen, wo 1918 die deutsche Niederlage besiegelt wurde. In Blumenbergs Deutung findet hier bereits die Erfüllung einer „Präfiguration“ statt. Hitler hat eine Vorliebe für solche Deutungsmuster, die sich nach rationalen Kriterien verbieten würden. 1941 vor der Schlacht bei Stalingrad fährt er nach Poltawa, wo Karl XII. von Schweden im Jahre 1709 eine große Niederlage gegen Rußland erlitten hatte. Blumenberg deutet das so: Hitler identifizierte sich mythisch mit dem Nordländer Karl und wollte die Schlappe unbedingt wettmachen. Auch der Gegner wird mit einbezogen: „Zweifellos unterstellte Hitler, daß für Stalin die Herbeiführung einer zweiten historischen Wendung in demselben (geographischen) Raum nach demselben Plan das Gepräge einer mythischen Wiederholung haben würde. Sie konnte sich mit dem Anspruch verbinden, den Krieg nicht nur an dieser Front, sondern auch für die Verbündeten und damit für die Welt aus dem vorgeprägten Arsenal der großen Revolution entschieden zu haben. Mythisierung heißt dann auch, wenn nicht vor allem: Dies braucht nicht bewiesen zu werden.“
Schließlich geht es um die „Inszenierung“ des Endes. Die übliche Darstellung, wonach es sich um reine Selbstdarstellung handelte, ist für Blumenberg falsch. Vielmehr hätten Hitler und Goebbels fest an ihre „Rolle“ geglaubt, doch sei es immer schwieriger geworden, diesen Glauben nach außen zu vermitteln. Denn „die Bezugnahme auf Präfiguranten stärkt nur die, die sich als Präfigurate empfinden“. Als „Präfiguranten“ empfand Hitler in dieser Zeit vor allem Friedrich den Großen. Mit Goebbels, der ihm noch das Buch von Carlyle mitbrachte, war er sich darüber einig. Doch wie sollte man solche „irrationalen“ Sichtweisen (Visionen) der Masse beibringen? „Die Argumente, die nur auf historische Beispiele verweisen, ziehen nicht mehr“, sagte Goebbels. Weil sie nur als Ähnlichkeiten verstanden wurden, nicht als mythische Identitäten. Danach folgt „die Vorbereitung der postumen Geschichte“, man will selbst mythisches Vorbild werden für Künftige. Der „Werwolf“ wird imaginiert als eine neue Version der Kampfzeit: „Die Werwolf-Aktion soll für die gegenwärtige Kriegslage das werden, was der ,Angriff‘ in unserer Kampfzeit gewesen ist. Wir glauben, damit auch dieselben Erfolge erzielen zu können.“
Man kann mit der Suche nach „Präfigurationen“ aber schon viel früher beginnen: bei den Wagner-Gestalten, mit denen Hitler sich identifizierte. Der „Rienzi“ gilt als sein politisches Erweckungserlebnis. Auch der Retter Siegfried und Erlöser Parsifal dienten Hitler als Vorbilder.
Daß Blumenbergs Kapitel zum politischen Mythos in den Zusammenhang der 70er Jahre gehört, sieht man beim Vergleich mit den Arbeiten von Hans Jürgen Syberberg aus der gleichen Zeit. Auch hier geht es nach einer linken Aufklärung von 1968 um eine Wiederkehr des Mythos, und auch hier spielt Hitler eine zentrale Rolle. Für uns heute sind solche Sichtweisen selbstverständlich, doch damals galt noch weitgehend eine „Faschismustheorie“, wonach es sich um rein ökonomische Motive handelt.
Hitlers Umgang mit dem Mythos beschreibt Blumenberg als „wahnhafte Überproduktion von Bedeutsamkeit“. Da ist sie also wieder, die medizinische Diagnose, die man Hitler kurz nach dem Krieg gern beigelegt hat. Mit dem Wort Wahnsinn ist allerdings nichts erklärt, denn es führt unmittelbar zu der Frage, weshalb so viele Normale einem Verrückten gefolgt sind. Und auch Blumenberg registriert bei der Umgebung Hitlers eine „persönliche und moralische Kapitulation, die mit den reellen Fakten der Furchtbarkeit des Monokraten nichts zu tun hatte“. Das heißt, sie gehorchen nicht nur aus Angst, sie gehorchen – sogar bis zum Schluß – auch aus einem anderen Grund, den man nur als geheimnisvoll bezeichnen kann. In der Hilflosigkeit griff man nach dem Begriff „Dämonie“, und hier zeigt sich wiederum eine „Präfiguration“: auch Napoleon hatte man diese Eigenschaft zugeschrieben. Goethe äußert sich darüber in „Dichtung und Wahrheit“: „Es sind nicht immer die vorzüglichsten Menschen, weder an Geist noch an Talenten, selten durch ihre Herzensgüte sich empfehlend; aber eine ungeheure Kraft geht von ihnen aus, und sie üben eine unglaubliche Gewalt über alle Geschöpfe (…).“
Zwar gibt es eine Parallele zwischen Geisteskrankheit und Mythenbildung. Doch Parallelen sind keine Überschneidungen. In beiden Fällen geht es um eine „Überproduktion von Bedeutungen“. Doch die Mythen verbinden eine Gemeinschaft und wirken über die Jahrtausende fort, während Wahnideen in die Isolation der Anstalt führen. Die Ideen Hitlers verbreiteten sich nicht nur unter seinen Anhängern, sondern zwangsläufig beschäftigten sich auch die Gegner damit, und zwar bis heute. Eine Krankheit als Erklärung ist damit auszuschließen. Doch wie viel Echtheit kann man den nationalsozialistischen Mythen zusprechen? Das wird sich wohl erst an ihrer Dauerhaftigkeit messen lassen.
Auch Karl Heinz Bohrer war seinerzeit von Blumenbergs Versuch, den Mythos zu rehabilitieren, beeindruckt. Die wissenschaftliche Anerkennung konnte er ihm nicht versagen, wohl aber die moralische: „Aber ist das alles gut? Ist das nicht ein gefährlicher Rückfall, dem man sich mit allen Mitteln widersetzen sollte?“, schrieb Bohrer in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“.
Ob gut oder böse, auf jeden Fall ist es schwierig, einen politischen Mythos zu schaffen. Das ist nicht planbar und wirkt peinlich, wenn es mißglückt. Mythen sind kostbar wie Naturschätze, und die noch lebendig sind, sollten gepflegt werden. In bezug auf den Linksfaschisten Georges Sorel schrieb Carl Schmitt: „Nur im Mythos liegt das Kriterium dafür, ob ein Volk oder eine andere soziale Gruppe eine historische Mission hat und sein historischer Moment gekommen ist.“