Was an dem Soziologen Ludwig Gumplowicz (1838–1909) zunächst auffällt, ist die Vergessenheit, in die der Wissenschaftler seit Mitte des letzten Jahrhunderts geraten ist. In der Zwischenkriegszeit wurde Gumplowicz in der deutschen Fachliteratur noch rühmend hervorgehoben, und obwohl der langjährige Professor an der Universität Graz schon im Dritten Reich wegen seiner jüdischen Herkunft und erneut im Nachkriegsdeutschland zur Unperson erklärt wurde, war es in den 1970er Jahren noch möglich, in amerikanischen Enzyklopädien auf günstige Einschätzungen seiner Leistung zu treffen. Zur Bestätigung dieses Ruhmes in den USA läßt sich anführen, daß Gumplowicz, der an Krebs erkrankte und mit seiner schon lange bettlägerigen Gattin Franziska Doppelselbstmord beging, vom hervorragenden amerikanischen Soziologen Frank Lester Ward mit einem ausführlichen Nachruf gewürdigt wurde. Ein noch namhafterer Soziologe, Harry Elmer Barnes, erstellte im Jahre 1968 für die „International Encyclopedia of the Social Sciences“ einen Beitrag über den Sozialwissenschaftler Gumplowicz.
Als Nachkomme einer Familie galizischer Rabbiner trat Gumplowicz zum Katholizismus über, als er sich für eine akademische Laufbahn entschied. In seiner Jugendzeit beteiligte er sich in seiner Heimstadt Krakau stürmisch am aufflammenden polnischen Nationalismus. Gekoppelt mit diesem Engagement gab Gumplowicz eine für die polnische Unabhängigkeit eintretende, polnischsprachige Zeitung mit dem Titel „Krai“ (dt. das Land) heraus. Seine frühen Schriften über Soziologie und Verwaltungslehre wurden auf polnisch verfaßt. 1875 zog er nach Graz, wo der Neuankömmling an der Universität über Verwaltungslehre dozierte. Binnen zwanzig Jahren brachte er es dort zum Ordinarius und erweiterte den Bereich seiner Lehrtätigkeit um die Sozialwissenschaft. Zu diesem Zeitpunkt begann der Professor durch seine zahlreichen Publikationen bekannt zu werden.
In der biographischen Skizze der „International Encyclopedia“ finden sich wiederholt Hinweise auf Ludwig Gumplowicz als „einen der Grundväter der Sozialwissenschaften im neunzehnten Jahrhundert“. Barnes zufolge trug er viel zum Verständnis der „intergroup relations“ und vor allem zur Überwindung älterer Begriffe des Gesellschaftskörpers bei. Er stellte die Scharnierrolle der Gegensätzlichkeit nicht nur bei der Entschlüsselung sozialer Verhältnisse, sondern auch bei der Entwicklung des Staatswesens und der menschlichen Zivilisationen in den Vordergrund. Und nicht zuletzt fokussiert er das Geflecht der Machtfaktoren, das sowohl die Gruppenbildung wie die konfliktträchtigen Beziehungen zwischen konkurrierenden Gruppen mitprägt. Im Gegensatz zu anderen hochprofilierten Sozialwissenschaftlern wie Emile Durkheim, die ein organisches Sozialgefüge annehmen oder ein aus der idealisierten Natur abgeleitetes ganzheitliches Bild von sozialen Verhältnissen darbieten, befaßte sich Gumplowicz hauptsächlich mit den Kämpfen unter den Menschen.
Was ihn verdächtig macht, liegt darin, wo er das konfliktträchtige Potential im geschichtlichen Prozess ausmacht. Sein 1883 in Innsbruck erschienener Erfolgstitel heiβt „Soziologische Untersuchungen. Rassenkämpfe“. In dieser Studie steht der Einfluß ethnischer Faktoren auf den menschlichen Entwicklungsprozess im Vordergrund. Wechselwirkung und Zusammenprall von rassisch verschiedenen Gruppen dienen für Gumplowicz als Schlüssel, um Geschichtsveränderungen von bedeutendem Ausmaβ zu begreifen. Obwohl der „Widersinn“ (sein bevorzugtes Schimpfwort) sich bei ihm nur selten einschleicht, daß aller Wandel einseitig und unmittelbar auf den Rassenfaktor zurückzuführen sei, stimmt es, daß für Gumplowicz Rassengegensätze eine zentrale Rolle bei den geschichtlichen Veränderungen spielen. Gumplowicz war auch der Auffassung, daß „alle diese Gesetze der Vererbung und Übertragung eher zur Erhaltung als zur Zersplitterung des Typus dienen“, daß die Rassenunterschiede also aufrecht bleiben. Eines seiner Hauptthemen versäumt Gumplowicz, mit der angemessenen Überzeugungskraft zu bearbeiten. Eine besondere Abteilung in seinen „Soziologischen Untersuchungen“ widmete er einer Verteidigung des „Polygenismus“. Doch alle neuen anthropologischen Daten belegen die Vermutung, daß der Homo sapiens sapiens vor ungefähr fünfzigtausend Jahren aus Ostafrika hervortrat. Erst zu einem späteren Zeitpunkt zeichnen sich die feststellbaren Rassenunterschiede ab. Gumplowicz ist im Irrtum, wenn er seinen Standpunkt auf polygenetische Prämissen zu stützen versucht. Auch wenn man davon ausgeht, daß die sich voneinander abgrenzenden Rassenteilungen lange nach der Auswanderung aus Afrika erfolgten, zieht das nicht die Nachhaltigkeit der später vollendeten Verschiedenheit in Zweifel.
Auch Gumplowicz Beschäftigung mit der Entwicklungsgeschichte der Sprachen muß als historisch überholt betrachtet werden. Immerhin räumt er ein, daß verschiedene Sprachen von einer Rasse, oder dieselbe Sprache von verschiedenen Rassen gesprochen werden können. Das besagt allerhand. Der Autor anerkennt, wenn auch nur stellenweise, daß sich Menschengruppen verschiedene Sprachen nutzbar machen konnten.
Als Jude aus Galizien, der mit Polnisch aufgewachsen war, wechselte Gumplowicz, als er 1875 nach Graz übersiedelte, zu der hochgeachteten deutschen Sprache. Er machte sie sich ganz zu eigen und pflegte als deutschösterreichischer Autor einen glänzenden Stil. Zwischen Sprach- und Rassenverwandtschaft, so Gumplowicz, besteht eine entfernte und nicht immer nachweisbare Entsprechung. Wenn dem so ist, warum sollte dann die Rassenverschiedenheit eine wuchernde Vielfalt von vorgeschichtlichen Sprachen voraussetzen? Bestreitbar, wenn nicht sogar zu widerlegen ist seine Feststellung, daß die Anzahl von Sprachen seit der grauen Vorzeit bedeutend abnimmt. Gumplowicz deutet auf die Herausbildung einer Vielfalt von Weltreichen und Staatsverwaltungen hin, um seine Argumentation zu stützen; jedoch fußt die Behauptung allenfalls auf Mutmaβungen.
Hingegen ist Gumplowicz Grundthese bezüglich der Bedeutung von Rassenkämpfen gröβtenteils haltbar, auch wenn seine Belege nicht immer zwingend erscheinen. (Erklärend muß man hinzufügen, daß Gumplowicz den Begriff der „Rasse“ allgemein auf ethnisch oder kulturell geschiedene Menschengruppen bezog.) Bei seiner Darlegung des „naturgeschichtlichen Prozesses“ verweist er gezielt auf ethnische Streitigkeiten und berücksichtigt, in welchem Umfang sie Herrschaftsverhältnisse bestimmen. Die im Kampf überlegene Stammesgruppe „nutzt die Unterlegenen aus“, doch das geschieht nicht immer auf dieselbe Weise. Zuerst töteten oder versklavten die Sieger, was ihnen zur Beute fiel. Als sie aus dem Urzustand allmählich emporstiegen, fanden sie eine bessere Verwendung für die Besiegten. Die Unglücklichen bildeten eine Art Unterschicht und mußten der Herrscherklasse samt Kindern und Kindeskindern dienen. Auf die Dauer wurden die unterlegenen Stämme in eine geregelte Staatsordnung eingefügt, und das ging Hand in Hand mit der Einführung einer Amtssprache und der Schaffung von verbrieften Rechten für alle Stände.
Gumplowicz nennt für den Aufbau des Staates eine Reihe von Folgeerscheinungen. Dabei verschwand die Rassentrennung nicht ganz. Vielmehr wird sie in die staatliche Ordnung eingebettet und tritt als eine staatlich gewährleistete Rangfolge auf. Gumplowicz erklärt: „Denn schließlich ist Herrschaft nichts anderes als eine durch Übermacht geregelte Teilung der Arbeit, bei der den Beherrschten die niedrigeren und schweren, den Herrschenden die höheren und leichteren (oft nur das Befehlen und Verwalten) zufällt. Wie aber ohne Teilung der Arbeit keinerlei Kultur denkbar ist, so ist ohne Herrschaft keine gedeihliche Teilung der Arbeit möglich, weil sich, wie gesagt, freiwillig niemand zur Leistung der niedrigeren und schwereren Arbeit hergeben wird.“ Dieser Punkt ist wichtig: Obwohl die „Vergesellschaftung der Sprache und Religion“ zu einer „amalgamierten“ Gesellschaft führt, wirkt die Staatenbildung gleichzeitig darauf hin, eine Herrschaftsordnung mit einer Trennung von Herrschern und Beherrschten zu festigen.
Ein weiteres Mittel, das der Herrscherklasse gegeben ist, betrifft die Ausgestaltung der immer mehr verzweigten Reichsstrukturen. Das erlaubt es den Besiegten und Tributpflichtigen, ein kollektives Eigenleben unter eingeschränkten Möglichkeiten zu führen. Die Unterordnung bleibt, ohne jedoch die bezwungenen Stammesgruppen ganz zu unterjochen oder ihre Eigenart auszulöschen. Dazu gehört auch die Bildung von Trabanten-Staaten, ein Entwurf, den sowohl die USA wie ihr sowjetischer Widersacher nach dem Zweiten Weltkrieg umgesetzt haben. Obwohl beide eine Zwangsherrschaft im besetzten Deutschland errichteten, wirkten sich die jeweiligen Direktiven verschieden aus. Die DDR wurde zu einem dauernden Polizeistaat, die sowjetische Regierung beutete die Bodenschätze und die Industrie der Ost- und Mitteldeutschen für sich aus.
In Westdeutschland dagegen haben die Sieger ihren Trabanten-Staat aus der Ferne geschickter gesteuert. Man setzte darauf, den Deutschen jede Spur eines Nationalbewußtseins zu rauben und ihnen nur die Erkenntnis zu lassen, daß sie mit schlimmen Verbrechen belastet waren, und daß sie zwei verheerende Kriege angezettelt hatten. Um diese gefährliche Neigung zu überwinden und den Nachbarländern künftige Gewalttaten zu ersparen, verlange es der Anstand sowie eine erdrückende „Weltmeinung“, die Besiegten umzuerziehen. Wenn diese Umformung gelänge, so die Hoffnung der Sieger, dann würde es möglich sein, einen Nachwuchs heranzubilden, der auf seine Heimat und Tradition nicht mehr stolz wäre. Im besten Falle würden die Umgeformten die gesamte deutsche Geschichte bedauern bis zu dem Moment, da ihr Land eingenommen und geistig und weltanschaulich umgebaut wurde.
Gumplowicz hätte in beiden Fällen von einem Trabanten-Staat sprechen können. Denn in beiden Fällen ist ein als fremd und bedrohlich eingeordneter Feind geschlagen worden, und der Sieger macht sich die Geschlagenen zu Dienern. (Der Vollständigkeit halber muß erwähnt werden, daß die Einnahme Deutschlands durch die Ansätze des Kalten Krieges begleitet wurde. Die Unterworfenen suchte man beiderseits zur Verfolgung weiterer Kriegsziele auszunutzen.)
Im Anhang zu seinen „Soziologischen Untersuchungen“ stuft Gumplowicz die Perser als musterhafte Reichsschöpfer ein und spendet ihrem vergangenen Reich lobende Worte: „Sie verstanden es besser als andere, eine dauernde Weltmacht zu begründen. Den ganzen Witz der Staatskunst: die mannigfachsten ethnischen Elemente in eine einheitliche Interessengemeinschaft zu verbinden, die Eigentümlichkeit der einzelnen Elemente so weit zu schonen, soweit dieselben dem Bestande der Ganzen nicht im Wege stehen.“
Verbriefte Rechte haben, wie schon erwähnt, langfristig eine positive Wirkung für die Unterdrückten. Danach war es um die Niedrigen nicht so schlimm bestellt wie früher bei der Leibeigenschaft. Gumplowicz sagt dazu: „Nur im Staat scheint das ursprüngliche Leben der Stämme von Grund auf einer Umwandlung unterzogen worden zu sein – nur der Staat konnte dasselbe von Grund auf ändern. Wo dieser es nicht tat oder nicht vermochte, da besitzt das Leben der Stämme eine derartige zähe Stabilität, daß es sich heutzutage in denselben Formen vollzieht wie vor Jahrtausenden.“
Dagegen sollte man folgendes nicht auβer acht lassen: Die Staatsordnung gilt als fortwährende Herrschaftsordnung, die besonders anfänglich die Bezwungenen gesetzlich benachteiligt. Die vorausgegangene Übernahme von Land und Macht ist durch Rassenfeindseligkeit geprägt. In seinem 1875 veröffentlichten Traktat über die Staatenbildung lehnt Gumplowicz schlichtweg jeden Begriff von einer „Vertragstheorie“ für den Ursprung der Staatsentwicklung ab. Weltverbesserer wie Kant und Rousseau wiegten sich in einer Traumwelt, worin die Unterjochung des anderen mit der Gründung einer Staatsverwaltung nichts zu tun hätte. Gumplowicz spricht sich eindeutig gegen solche Ansätze für die Sozialwissenschaft aus.
Gleichzeitig nimmt er sich aber in acht, die bloße Gruppenzugehörigkeit mit echten Rassen zu verwechseln. Wegen der in Gang gesetzten Amalgamierung sind Stammesgruppen miteinander vermischt und kulturell verwachsen: „Danach sehen wir im Laufe der Entwicklung der Menschheit immer und überall aus heterogenen Gruppen, die wir einfach Rassen nennen wollen, höhere Gemeinschaften entstehen, die sich im Gegensatz zu anderen heterogenen Gruppen und Gemeinschaften als Rassen darstellen. Die Stammeszugehörigkeit bekundet sich in einem ‚Gefühl der Einheit, vermöge dessen dieselben sich an die eine Menschengruppe enger anschlossen und mehr angezogen fühlen als an andere Menschengruppen.‘“
Zum „sozialen Naturprozeß“ treten noch zwei Tendenzen hinzu, die in argem Gegensatz miteinander zu stehen scheinen, aber tatsächlich nebeneinander herlaufen. Einerseits wirkt die Amalgamierung als Triebkraft, wenn Stammesgruppen sich verbünden und Mischehen eingehen. Andererseits formen sich immer wieder gegensätzliche Fronten aus, die angetrieben werden von einem Stammesbewußtsein, gekoppelt mit einer tiefen Abneigung gegen die drohenden Konkurrenten. Gumplowicz hält es nicht für lohnend, bestimmte Grundsätze in Abrede zu stellen. Zu seinen Grundaussagen zählt etwa: „Jede Herrschaft ist immer das Resultat eines Krieges“; ohne Herrschaft wäre es nicht möglich, die Kultur als „Gesamtheit der geistigen Gebiete“ eines Volkes hervorzubringen, und nicht zuletzt: Die ethnisch bedingten Gegensätze führen schließlich zu einer menschlichen Zivilisation.
Gumplowicz bringt seine brutalen Grundsätze aber nicht vor, um Blutvergießen zu rechtfertigen oder die Herrschenden zum Krieg aufzustacheln. Ihm geht es darum, auf die blutige Voraussetzung jeder Staatswerdung aufmerksam zu machen. Er distanziert sich von der Gefühlsduselei, die schon zu seiner Zeit die Darstellungen der internationalen Beziehungen prägten. Und nicht zuletzt versucht er, menschliche Erfahrungen und Errungenschaften ohne die übliche Weichzeichnung darzustellen. Die Wechselwirkung von Rassenstreitigkeiten und dem nachfolgenden Amalgamierungsdrang stellt Gumplowicz nochmals in „Rasse und Staat. Eine Untersuchung über das Gesetz der Staatenbildung“ (1875) dar: „Ohne Rassengegensätze gibt es keinen Staat und keine staatliche Entwicklung, und ohne Rassenverschmelzung gibt es keine Kultur und keine Zivilisation.“
Die vollendete Gleichheit gibt es jedoch nie: „Wir bemerkten es fast in allen Staaten, daß die Erobererrasse, die sich als herrschende Adels-Classe in den erobernden Gebieten niederläßt, die geistig entwickeltere, intelligentere, mit einem Wort die moralisch überlegene ist.“ Auch wenn die peinlich genau erstellten Rangordnungen sich verschieben lassen oder Einschnitte bilden, dauert es Generationen, bis sich eine entscheidende Umstellung vollzogen hat.
Gumplowicz ist Spengler um zwei Generation voraus, wenn er mit dem Verfall des öffentlichen Lebens und der Lockerung der Staatsräson eine verfeinerte Gesittung und geschmäcklerische Kunstpflege verbindet. Im Vorgriff auf das Leitmotiv des „Untergangs des Abendlandes“ stellt der Soziologe einen auffälligen Vergleich zwischen den Lebensstufen einer Staatsordnung und der Abfolge der Menschenalter an: „Das Stadium der schroffen Rassengegensätze, die in politischem und socialem Kastenwesen ihren Ausdruck finden, das ist die noch culturlose Kindheit des Staates; das Stadium des Kampfes und der beginnenden Amalgamierung der Rassen, das ist das Jünglings- und Mannesalter des Staates; das Stadium der Ausgleichung der Rassengegensätze und der reifen Civilisation, das ist das Greisenalter des Staates, das sein nahes Ende verkündet.“ (Bei dem Vergleich mit Spengler muß man natürlich gewissen terminologischen und begrifflichen Unterschieden Rechnung tragen. Im Gegensatz zu Spengler spricht Gumplowicz vom Staat und nicht von einer ausgeprägten Zivilisation. Überhaupt verwendet er die Bezeichnung „Cultur“ für das, was Spengler als reife „Zivilisation“ bezeichnet. Sosehr sich Gumplowicz in seinem „Grundriss“ von naturwissenschaftlichen Analogien und Gleichnissen distanziert und die Unvereinbarkeit dieses Vorgehens mit einer streng sozialwissenschaftlichen Sichtweise betont, verwendet er stellenweise doch die geschmähte Methode.)
Reizthemen, denen man später bei Georg Simmel und vor allem Carl Schmitt begegnet, nimmt Gumplowicz ebenfalls vorweg. Seit den 1870er Jahren oder schon früher führt er seinen eigenen Begriff von einer Freund-Feind-Beziehung zur Vollkommenheit. Mehr als Schmitt im „Begriff des Politischen“ zieht Gumplowicz reichhaltige historische Beispiele für seine Konflikttheorien heran. Bei seiner eingehenden Betrachtung der griechischen Geschichte bestreitet er grundsätzlich, daß die Erweiterung des Machtgebiets von Athen im Unterschied zur Geschichte Spartas im Wesentlichen friedlich erfolgte. In Attika wie in Lakonia ging die Herausbildung einer „politischen Gemeinschaft“ nur mit Brachialgewalt vonstatten. Schon Aristoteles, athenischer Herkunft und ehrenhalber athenischer Staatsbürger, verwies im ersten Buch seiner „Politik“ auf die unterschiedliche Abstammung der Herrschenden und Beherrschten. Zwar bringt er einen grundsätzlichen Einwand gegen das Sklavenhaltertum vor, indem er darauf verweist, daß es Sklaven gäbe, die wegen ihrer Verstandeskraft in einen höheren Rang eingestuft werden sollten, und ebenso Sklavenbesitzer, die keine Begabung zum Herrschen aufweisen. Dennoch hält er daran fest, daß es Menschen gibt, die zum Sklaven geboren sind und daß insbesondere die „Barbaroi“, die nicht vom selben Stamm wie die Herrscher seien, nur zu dieser Rangstufe taugen. Auch die Athener haben den ursprünglichen Bewohnern das Land entrissen und die früheren Ansiedler unterworfen. Diese Verdrängung bezeugt einen immer wiederkehrenden Geschichtsablauf, auf den auch der bedeutende preußische Historiker Maximilian Duncker verwies: „Das Emporkommen des mächtigeren ethnischen Elements“, dessen Machtausübung kultur- und zivilisationsbringend ist.
Wenn der Leser Gumplowicz pessimistisches Ideengebilde in den Blick nimmt, dürften ihm zwei Fragen in den Sinn kommen. Zuerst könnte man sich fragen, ob die Widersprüche, wodurch Gruppen sich verfeinden, immer auf blutige Lösungen hinauslaufen müssen. In den letzten sechzig Jahren wurden alle westlichen Länder in unterschiedlichem Grad von einer Beinahe-Diktatur der Politischen Korrektheit und deren Folgen geprägt. Im Verlauf dieser Umkehr aller Werte, die durch Wahlen bestätigt wurde, sind ganze europäische Kulturen abgetragen und weite Gebiete „umgevolkt“ worden. Diejenigen, die der gesteuerten „Zeitströmung“ entgegenzuwirken versuchen, werden als Rassisten und sogar als Nazis diffamiert, von öffentlichen Ämtern und den Medien ausgeschlossen und schlimmstenfalls strafrechtlich belangt.
Diese einschneidende Wende möchte ich nicht moralisch beurteilen. Ich will nur auf den einen Punkt hinweisen, daß die Umwandlung einer ehemals bürgerlich-christlichen westlichen Gesellschaft in eine (beschönigend zu sprechen) grundverschiedene Form des Zusammenlebens erfolgt, ohne daß Gewalt ausgeübt wird. Die Einwohner stimmten zu, als die neuen Herrschenden die Deutungshoheit übernahmen und zur Förderung ihrer Umformungszwecke den Staat benutzten. Die gewalttätigen Auseinandersetzungen verschiedener Gruppen, die Gumplowicz mit der Entstehung von Staaten in Verbindung bringt, gelten offenbar nicht mehr als Voraussetzung zum Machtwechsel.
In Anknüpfung daran ergibt sich die zweite Frage: Wenn die menschliche Geschichte als eine Aufeinanderfolge von Herrschaftsformen sich entfaltet und wenn das Machtstreben mit einer Stammeszugehörigkeit deckungsgleich ist, warum zeigen dann die Weiβen in den westlichen Ländern und allen voran die Deutschen einen solchen Mangel an Gruppensolidarität? Es mag sein, daß dies zahlenmäβig eine unbedeutende Ausnahme darstellt im Vergleich zur Gesamtheit aller Erfahrungen. Dennoch sticht die Abweichung ins Auge. Wieso lassen sich die weißen Mehrheiten von land- und zivilisationsfremden Einwanderern verdrängen und wegschieben, ohne einen Protest zu äuβern, während Erzieher und Journalisten die Stammesgruppen, aus denen sie selbst kommen, geringschätzen? Die Einheimischen sprechen nach, was die Vertreter der „multikulturellen Gesellschaft“ ihnen vorbeten. Das verdient aufmerksame Betrachtung, weil es mit den genannten Gesetzmäßigkeiten keineswegs in Einklang steht.
Einige Gründe für diese Abweichung schildert der Ordinarius für Psychologie am Massachusetts Institute for Technology, Steven A. Pinker, in seinem 2011 erschienenen Bestseller „The Better angels of our Nature: Why Violence Has Declined“. Wenngleich bei manchen seiner Schlußfolgerungen erhebliche Zweifel angebracht sind, steht doch fest, daß die westlichen Kernvölker seit dem Zweiten Weltkrieg immer weniger zur Gewalt neigen, und daß kriegerische Gewalttaten und zivile Ausschreitungen weiterhin im Abnehmen begriffen sind. Pinker prahlt mit dieser Entwicklung, die er weitgefächerten Faktoren zuschreibt, ausgehend von Kriegsmüdigkeit und dem Vorhandensein besserer Beschäftigung bis hin zu einer therapeutischen Regierung, die „aus der Rasse der Menschen alle Streitsucht herauszüchtet“. Pinker freut sich über die von oben gesteuerte Verweichlichung der Männerwelt, die Schwächung der Nationalgefühle in Westeuropa, und die von oben nach unten verordnete Pflege von friedensstiftenden weltgemeinschaftlichen Empfindungen.
Bei diesem Punkt steht man vor einer weiteren Frage: was werden die ihres ererbten und erarbeiteten Besitzstandes beraubten Abendländer tun, wenn sie von den einströmenden und kulturell begünstigten Zuwanderern bedroht werden? Würden Sie gegebenenfalls den Mut aufbringen, einer drohenden Enteignung und Übernahme zu widerstehen? Ist die Verweichlichung so weit fortgeschritten, daß sie bei den Betroffenen jedem Widerstandsimpuls entgegenwirkt? Vielleicht sollte man sich nicht nur in Graz wieder darauf besinnen, was Gumplowicz, immerhin einer der Väter der deutschen Soziologie, als wesentliche Antriebskraft der historischen Entwicklung herausgestellt hat.