Seit 1960 sind mehr als 2,3 Billionen Dollar Entwicklungshilfe nach Schwarzafrika geflossen, gegenwärtig sind es 68 Milliarden Dollar pro Jahr. Auf die Bevölkerung umgerechnet erhielt jeder Afrikaner damit sechsmal mehr als jeder Europäer durch den Marschallplan. Doch Afrika ist in den letzten 50 Jahren nicht reicher geworden, im Gegenteil: Nigeria, sechstgrößter Ölexporteur der Welt, gehörte einst zu den 48 reichsten Ländern der Welt und heute zu den 25 ärmsten. Das westafrikanische Ghana hatte im Jahr seiner Unabhängigkeit ein Prokopfeinkommen auf dem Niveau von Spanien. Heute lebt mehr als die Hälfte der Bevölkerung in absoluter Armut. Der Kongo verfügte am Ende der Kolonialzeit über einen höheren Industrialisierungsgrad als Brasilien, seine Entwicklungsindikatoren galten für besser als jene Südkoreas, doch der Kongo hat sich in den letzten 40 Jahren nicht fort-, sondern zurückentwickelt. Von der Infrastruktur der belgischen Zeit ist nahezu nichts mehr übrig, viele Städte im Landesinneren existieren nur noch dank der Hilfsflüge aus aller Welt, die sie mit einem Minimum an überlebensnotwendigen Gütern versorgen. Diese Beispiele lassen sich verallgemeinern: Vor 40 Jahren lebten nur 10 % der Afrikaner unter einer Einkommensgrenze von 2 Dollar am Tag, heute sind es 70 %.
Jetzt mehren sich Stimmen, die sagen, daß die Entwicklungshilfe nicht Lösung, sondern weithin Ursache des Problems ist. Persönlichkeiten wie der ugandische Journalist Andrew Mwenda, die kamerunische Intellektuelle Axelle Kabou oder der keniatische Ökonom James Shikwati fordern die völlige Einstellung der Hilfszahlungen (abgesehen von echter Katastrophenhilfe). Für besonderes Aufsehen hat das Buch „Dead Aid“ von Dambisa Moyo gesorgt. Die gebürtige Sambierin studierte Ökonomie in Oxford und Harvard und war ausgerechnet für Goldman Sachs erfolgreich als Bankerin tätig. Für das amerikanische Magazin „Time“ gilt sie als eine der hundert einflußreichsten Persönlichkeiten der Gegenwart. Mit ihrem Bestseller (erschienen bei Penguin-Books 2009) hat sie in ein Wespennest gestochen und international die Hilfs-Lobbyisten gegen sich aufgebracht. Ihr Argument: Entwicklung funktioniert nur mit „Karotte und Prügel“. Durch die Hilfsleistungen werden beides – Karotte und Prügel – weggenommen. „Niemand wird bestraft, wenn er nicht innovativ ist, denn die Hilfen fließen trotzdem. Und niemand wird belohnt, wenn er sich anstrengt.“ (Im Gespräch mit der FAS, 7. September 2009).
In dieses Horn stößt auch Volker Seitz, der viele Jahre als Deutscher Botschafter in verschiedenen Ländern Afrikas gearbeitet hat, mit seinem Buch „Afrika wird armregiert“. Bemerkenswert: Das Vorwort zu diesem Werk stammt von Rupert Neudeck, Gründer der Hilfsorganisation Kap Anamur.
Seitz argumentiert dabei ebenso gegen den immer wieder geforderten Schuldenerlaß: Während die afrikanischen Außenschulden 215 Milliarden Dollar betragen, haben die Potentaten Afrikas über 400 Milliarden Dollar Eigenkapitel auf ausländischen Banken angesammelt. Die Verschwendung durch die regierenden Kreise ist ungeheuer: Als der Präsident der Union afrikanischer Staaten, Denis Sassou Nguesso, bei einer Geberkonferenz in Paris neue Mittel für die Armen Afrikas forderte, hatte er gerade 280.000 Dollar für einen einwöchigen Hotelaufenthalt in New York ausgegeben. Nguesso besitzt in Frankreich 18 Immobilien und verfügt über 112 Bankkonten. Beispiele wie dieses machen klar: Die Entwicklungshilfe nährt eine korrupte und unfähige Herrscherschicht, die mit den laufend fließenden Mitteln ihre Klientel befriedigt und sich so an der Macht hält. Diese Strukturen würden, davon sind die genannten Autoren überzeugt, von den Völkern Afrikas nach einem Einstellen der Zahlungen rasch hinweggefegt. Es ist auch absurd, schreibt Seitz, daß europäische und amerikanische Ärzte, Ingenieure, Landwirtschaftsexperten in Afrika Entwicklungshilfe leisten, wenn zugleich einheimische, gut ausgebildeten Fachkräfte den Kontinent in Massen verlassen: Allein 20.000 Ärzte und Krankenschwestern wandern jedes Jahr von Afrika in die Industriestaaten. Dieser „Brain drain“ müßte, zum Wohle des Kontinents, der so seine gut ausgebildeten, wirtschaftlich aktivsten Kräfte verliert, unbedingt unterbunden werden.
Auf diese Frage gibt gerade Volker Seitz viele Antworten, bleibt aber teilweise zu sehr an der Oberfläche. So mag es richtig sein, daß eine Förderung der Landwirtschaft viermal wirksamer beim Armutsabbau ist, als Investitionen in anderen Wirtschaftsbereichen. Doch hier fehlt die detaillierte Analyse. Soll die Landwirtschaft in erster Linie für den heimischen Markt produzieren oder exportorientiert sein? Das Geld, das die keniatischen Rosenfarmen verdienen, kommt der Bevölkerung dieses Landes jedenfalls kaum zugute. Die Farmen sind meist in der Hand europäischer oder israelischer Eigner, und die Kritik, daß das unter Trinkwassermangel leidende Kenia mit jeder per Flugzeug exportierten Rose auch Wasser exportiert, das im Lande für andere Zwecke dringender benötigt würde, ist nicht von der Hand zu weisen. Dambisa Moyo allerdings sieht in einer Exportorientierung der Landwirtschaft Afrikas Zukunft, und zwar im Hinblick auf China, das sich schon jetzt auf diesem Kontinent intensiver engagiert, als es die westlichen Länder tun.
Einen wichtigen Moment sieht Seitz auch in den Kleinkrediten, wie sie Friedensnobelpreisträger Mohammad Yunus entwickelt hat: Ohne Sicherheiten bieten zu müssen, erhalten Unternehmer in armen Ländern Kredite in der Höhe von 30–250 Euro, um damit ein eigenes kleines Geschäft oder Gewerbe ins Laufen zu bringen. 97 % der Kreditnehmer sind Frauen, die Rückzahlquote liegt bei fast 99 %. Daher setzt Seitz seine Hoffnungen überhaupt auf eine stärkere Frauenförderung. Frauen sind, so schreibt er, „die wahren Perlen Afrikas“. Sicher stimmt es, daß die Frauen in vielen afrikanischen Kulturen die Hauptlast der Arbeit tragen, fleißiger sind und verantwortungsbewußter agieren, als die Männer – die aber doch in den Familien, in Politik und Öffentlichkeit immer noch das Sagen haben. Die Frage, ob sich solche kulturellen Muster einfach überwinden lassen, oder nicht gerade eine der Hauptursachen für das bisherige Scheitern jeglicher eigenständigen Entwicklung Afrikas bilden, stellt Seitz nicht. Auch andere kulturelle Ursachen für die Stagnation bzw. Rückwärtsentwicklung kommen nicht zur Sprache, wie sie im höchst empfehlenswerten Buch „Ökonomie der Hexerei oder warum es in Afrika keine Wolkenkratzer gibt“ ausführlich geschildert werden. Natürlich faßt Seitz auch das heißeste Eisen nicht an, nämlich daß die Misere möglicherweise auch genetische Ursachen haben könnte, nämlich den meßbar niedrigeren Durchschnitts-IQ im subsaharischen Afrika (vgl. NO 2/07). Wobei, um Mißverständnissen vorzubeugen, ein Durchschnitts-Intelligenzquotient nur etwas über die statistische Verteilung von Intelligenz aussagt, und es auch in Ländern mit durchschnittlich niedrigerem IQ Hochbegabte geben kann – die hier zitierten afrikanischen Autoren zählen ohne Frage dazu. Gegen eine Überbewertung genetischer oder kultureller Ursachen spricht allerdings das Beispiel von Botswana und das von Benin nach dem Machtwechsel von 2006. Beide zeigen, daß auch schwarzafrikanische Staaten, eine entsprechend fähige Regierung vorausgesetzt, eine positive Entwicklung nehmen können. Der neue Weg, den Volker Seitz, Dambisa Moyo und andere vorschlagen, kann also wirklich erfolgversprechend sein. Für viele Länder des schwarzen Kontinents ist er möglicherweise aber auch die letzte Chance auf eine eigenständige und selbstverantwortliche Entwicklung. Sonst bleibt, wie es der Kongo vormacht, nur die Wahl zwischen Intervention von Außen und dem Weg zurück in den Busch.