„Muß Politik so sein?“ lautet der Titel eines beliebigen nationalen Vortrags. Man braucht den Vortrag nicht gehört zu haben, um die Antwort schon zu kennen: „Nein, Politik muß keineswegs so sein, wie sie heute betrieben wird. Die allgemeine Politikverdrossenheit kommt daher, daß die etablierten Parteien dem Bürger das Geld aus der Tasche ziehen und in den Moloch EU pumpen bzw. niemand an die kleinen Leute denkt und daß Zigeuner und Zuwanderer umschmeichelt werden. Wer soll sich für so eine Politik schon begeistern?“
Natürlich könnte das Volk diese Politiker auch abwählen, doch das tut es – leider – bisher nicht. Die Ursache dafür ist, daß die nationalen Parteien noch nicht überzeugend genug auftreten und sich hin und wieder selbst ein unpopuläres Auftreten leisten. Damit jedoch, schließt der Redner, wird es in Kürze vorbei sein. Wahrscheinlich schon zum nächsten Wahltermin dürfte der Wähler grundlegend zur Besinnung kommen, und dann werden wir erleben, wie Politik aussehen sollte, nämlich stark, gerecht und rundum erfolgreich.
Früher, so heißt es, sei das schließlich auch gegangen. Und mit „früher“ meinen wir nicht etwa die Zeit des Nationalsozialismus, sondern als Bundesdeutsche meinen wir Politiker wie Konrad Adenauer, Franz Josef Strauß oder Helmut Schmidt, die wenigstens noch persönliches Format hatten, und bei denen es Spaß machte, ihren Debatten zuzuhören.
Muß Politik so zum Erbrechen fade sein, wie sie heute ist? Ja – angesichts der derzeit herrschenden historischen und weltpolitischen Lage kann die Politik in Deutschland und Österreich und im übrigen Europa nicht anders sein, als sie ist. Diese Erkenntnis berührt zwar schmerzlich, aber sie bewahrt einen vor den ständigen Enttäuschungen, die jeder Feinfühlige und Anspruchsvolle auf dem Felde der Politik erlebt, sei es als Zuschauer oder gar als Akteur. Das höchste Ansehen unter den Berufen genießen nach Meinungsumfragen die Ärzte, das niedrigste die Politiker und Journalisten. Das liegt nicht daran, daß von vornherein nur charakterlose Menschen in die Politik gehen, sondern daß in der Medizin sehr viele Fortschritte gemacht werden, und das gilt für Wissenschaft und Technik allgemein, in der Politik hingegen stagniert die Entwicklung seit Jahrzehnten. Seitdem der Wohlstand und die damit verbundenen Freiheiten für den Bürger in den 70er Jahren einen ersten Höhepunkt erreicht hatten, schwankt der Standard um diesen Spitzenwert, um spätestens seit Ende der 80er Jahre deutlich zu sinken. Hinzu kommt, daß das negative Vorbild im Osten weggefallen ist. Die Politik kann mit den bisherigen Mitteln nichts mehr erreichen, weil es nichts mehr zu verteilen gibt. Gewählt werden aber müssen sie trotzdem. Ein vielzitierter Satz lautet: „Politik ist ein schmutziges Geschäft.“ Doch das kann man, wenn man ehrlich ist, von der Medizin auch sagen und von jedem Gewerbe. Politik ist ein undankbares Geschäft, dieser Satz gilt heute. Von der bekannten modernen Parteipolitik gilt wahrscheinlich sogar, daß sie ein bankrottes Unternehmen ist. Ein Geschäft, aus dem jeder seine Finger zieht, der irgendwo anders noch Chancen hat. Und deshalb werden unsere Politiker immer unsympathischer und uninteressanter. Es sind die, die zu nichts anderem die Begabung oder die Berufung hatten und deshalb in der Politik hängengeblieben sind, wie mancher auf einem unverkäuflichen Möbel sitzenbleibt. Da müssen sie sich dann einrichten und tun es, so gut es geht.
Dieses neue und keineswegs anziehende Politikerbild gilt in fast demselben Maße auch für die nationalen Politiker oder Politisierer. Denn auch dort merken es viele gleich oder zumindest nach einer Weile, daß sie gegen die herrschenden „Sachzwänge“, die stärker sind als ganze Armeen, nicht ankommen, und ziehen sich ins Privat- oder Berufsleben zurück. Übrig bleiben die, denen beides fehlt. Der Rückzug kann auch ins Religiöse erfolgen: Wir kennen den Fall eines gebildeten jungen Mannes, der jahrelang ständiger Gast in nationalen Veranstaltungen war und dort auch gesprochen hat, bis er auf einmal zur allgemeinen Überraschung zu den Pius-Brüdern wechselte. Seine Begründung enthielt nicht etwa die Abkehr von den bisherigen politischen Überzeugungen, sondern von der Politik überhaupt. Das sei nicht das wichtigste, und: bei den Pius-Brüdern herrsche geistig „ein ganz anderes Niveau“. Eben nicht die Stimmung der Verlierer.
Wir wollen uns nicht so einfach überzeugen lassen. Es ist sicher angebracht, solchen „Konvertiten“ zunächst einmal vorzuhalten, daß sie mit ihrer neuen Einstellung keine allgemeinen Veränderungen bewirken können. Sie können nicht mehr, was mit der Politik möglich ist, auf Millionen von Menschen einwirken und deren Leben verändern. Das geht jetzt nur noch im Hinblick auf einzelne. „Politisch“ hat das keine Bedeutung. Aber historisch vielleicht, muß man hinzufügen, denn das Christentum ist anfangs auch nur von Mund zu Mund verbreitet worden und hat später über tausend Jahre die europäische Politik bestimmt. Diese Zeit, argumentieren nationale Aktivisten, haben wir nicht, denn in hundert Jahren wird unser Volk rein zahlenmäßig an den Rand gedrängt sein. Daraus entsteht dann eine Politik nach dem Motto, daß nicht sein kann, was nicht sein darf. Auch sie zieht nicht gerade die intelligentesten Köpfe an. Die denken nämlich eher in „worst case“-Szenarios, wie die Psychologen es heute nennen, und fragen sich, was denn bliebe, wenn tatsächlich die „weißen Völker“ oder die Völker überhaupt verschwinden sollten. Gott bleibt auf jeden Fall, und von der eigenen Seele darf man es, solange man lebt, zumindest glauben. Es bleibt aber auch die Natur und die Notwendigkeit, sie zu schützen. Es bleibt die Menschheit und die Suche nach irgendeinem Ethos. Ja, auch die Philosophie ist neben Religion, Naturschutz und Esoterik eine Möglichkeit, sich dem politischen Streit zu entziehen. Unter „Religion“ verstehen wir übrigens auch Islam und Judentum. Das orthodoxe Judentum zieht einzelne Persönlichkeiten wieder neu an, wie zum Beispiel den Schriftsteller Benjamin Stein, der in seinem Roman „Die Leinwand“ daraus künstlerisch Kapital schlägt. Das Buch „Heilige Einfalt“ des Islamexperten Olivier Roy weist überraschenderweise darauf hin, daß innerhalb des Islam die politisch aufgeladene Radikalität an Interesse abnimmt und der religiöse Gehalt in den Vordergrund tritt: „Charismatische Bewegungen und Gruppen, Pfingstler und Evangelikale in der Christenheit und religiöse (eben nicht politische) Neofundamentalisten im Islam sind die neuen Wachstumsbranchen auf dem Markt der Weltreligionen.“
Was fällt an den genannten Bewegungen „jenseits der Politik“ auf? Was haben sie alle gemeinsam? Sie haben gemeinsam, daß sie nicht demokratisch sind und nicht demokratisch sein können. Sie beziehen sich auf eine Wahrheit; eine religiöse, naturwissenschaftliche oder auch nur eine persönliche Wahrheit, die nicht zur Disposition gestellt ist. Jeder sieht das auch sofort ein, und keiner kann es bestreiten, daß hier die Demokratie ihre Grenzen hat. Und eben deshalb gelten die genannten Gebiete als „unpolitisch“, sie sind aus der politischen Auseinandersetzung ausgeklammert. Das ist das Modell des säkularisierten Staates, das zugegeben jahrhundertelang ganz gut funktioniert hat. Allerdings hat der säkularisierte Staat keine andere Autorität als die der Mehrheit, auch wenn eine pseudoreligiöse Menschenrechtsideologie als schmückender Rahmen hinzugefügt wurde. Es ist schon bezeichnend, wenn der bekannte Staatsrechtler und Verfassungsrichter Ernst-Wolfgang Böckenförde nach 40 Jahren der Beschäftigung mit der Problematik des säkularisierten Staates feststellt, daß dessen Existenz auf eine „vorhandene und gelebte Kultur“ angewiesen ist, die der Staat daher „zu schützen“ habe. (s. Ernst-Wolfgang Böckenförde, Der säkularisierte Staat. Sein Charakter, seine Rechtfertigung und seine Probleme im 21. Jahrhundert, München 2006) Der Band ist übrigens Robert Spaemann gewidmet, dem katholischen Philosophen und Papst-Berater. Mit anderen Worten: Unser Gemeinwesen ruht auf Werten, die aus einer vergangenen Epoche stammen. Wenn diese Werte „medial zerbröselt“ sind, was Bockenförde ausdrücklich für möglich hält, hilft keine philosophische Rekonstruktion mehr. Das liegt daran, daß die freiheitlich-demokratische Ordnung immer zur schrittweisen Befreiung von alten Zwängen und Bindungen führt. Darin besteht der für sie konstitutive „Fortschritt“.
Liegt aber die politische Legitimation bei der Mehrheitsentscheidung, so liegen umgekehrt alle Fragen, in denen die Mehrheit nicht entscheiden kann, außerhalb des politischen Gebietes. Deshalb kommen auch naturwissenschaftliche Erkenntnisse nicht in den politischen Institutionen an, sofern sie den Interessen der Mehrheit zuwiderlaufen. Nur das wird an Wissenschaft angeeignet und ausgebeutet, was „dem Wähler“ dient oder zu dienen scheint. Die „Klimadebatte“ ist hier eine interessante Ausnahme. Die Klimaforscher – oder einige davon – haben es tatsächlich geschafft, so viel Angst zu verbreiten, daß die Politik sich zu unpopulären Maßnahmen hinreißen läßt. Aus dieser Ausnahme könnte allerdings die Regel werden, wenn der Mehrheitswille sich zunehmend von den realen Möglichkeiten entfernt. Politiker, die gewählt worden sind und wieder gewählt werden wollen, finden sich mehr und mehr in die Enge getrieben vom Fehlen entsprechender Natur- und Humanressourcen, um die Wünsche ihrer Wähler wenigstens ansatzweise zu erfüllen. Diese Politiker, die einem leidtun können, sehen sich hilfesuchend nach außerpolitischen Autoritäten um, auf die sie die Verantwortung abwälzen könnten. Es mag sogar sein, daß auf diese Weise die „Klimakatastrophe“ erst erfunden wurde, um das durchzusetzen, was anders nicht durchzusetzen ist. Andere wissenschaftliche Erkenntnisse braucht man aber gar nicht zu erfinden, um daraus extrem unpopuläre Forderungen abzuleiten, wie etwa die Eliteförderung, den Pflichtsport oder das Fernsehverbot. All das läßt sich politisch nicht durchsetzen, solange man unter Politik den säkularisierten Staat und damit die Mehrheitsentscheidung versteht. Die Suche oder die Sehnsucht nach einer anderen Autorität mag zwar inzwischen sogar bei den Politikern selbst vorhanden sein, trifft aber immer wieder auf das granitene Fundament der freiheitlich-demokratischen Grundordnung. Es leitet sich angeblich von Kant und der Aufklärungsphilosophie her, wonach die menschliche Vernunft der oberste Richter ist. Jedoch hat Kant sehr wohl gesehen, daß die menschliche Vernunft nicht identisch ist mit dem menschlichen Individuum. Das Individuum wird nämlich nicht geleitet von seiner Vernunft, sondern von „psychologischen“ Antrieben, wie Kant es nennt, also Lust und Unlust, Gier und Angst etc. Um sie politisch anwenden zu können, mußten Kants Nachfolger dessen Theorie also verfälschen und so tun, als ob Vernunft und Individuum eine Einheit bildeten – zumindest in dem Augenblick, in dem es um politische Fragen geht. Die Wahrheit ist aber: Sozialhilfeempfänger stimmen immer für die Erhöhung der Sozialhilfe, Gutverdienende stimmen immer für die Senkung der Steuern. Und wenn mal ein einzelner sich nicht nach dieser „psychologischen“ Regel verhält, dann darf man ihn schon beinahe als geistesgestört bezeichnen. In der Praxis führt die Säkularisierung des Staates zur Mehrheitsherrschaft und die Mehrheitsherrschaft zwangsläufig zur Interessenpolitik. Politik ist nichts anderes als ein Abwägen von Interessen verschiedener Wählergruppen, man kann auch sagen Umverteilung. Seitdem die verschiedenen Staaten wirtschaftlich so eng verflochten sind, daß gegenseitige Abhängigkeiten bestehen, gilt diese Regel auch für die sogenannte Außenpolitik. Auch da ist das Thema vornehmlich, wer wem wieviel Geld zu zahlen hat.
Das liegt nicht an irgendeiner Verschwörung, sondern einfach an der Befreiung der Menschheit von einer höheren Autorität – am „Tod Gottes“, um mit Nietzsche zu sprechen. In einer Welt mit begrenzten Ressourcen ist die Realisierung dieser Freiheit nun einmal nur über das Geld möglich. Je mehr Freiheit für das Individuum, desto größer die Macht des Geldes, diese Regel kann man aufstellen. Sie bestätigte sich zum Beispiel im Ostblock, wo der Normalbürger viel Geld ansparen, aber damit wenig anfangen konnte – das kann nur passieren in einem Staat, der ohnehin alles vorschreibt und kaum Auswahlmöglichkeiten läßt – außer für die „Bonzen“, die über „echtes Geld“, sprich Devisen, verfügten. Bei uns herrscht hingegen eine formale Freiheit (zum Beispiel zu reisen oder Autos zu kaufen), die erst durch Geld real wird. Da dieser Widerspruch permanent gegen die „Humanität“ verstößt, muß die Politik dagegen wirken, sprich für Umverteilung sorgen. Vor allem die Arbeitslosigkeit ist ein ständiger Affront gegen die Grundwerte. Denn der Arbeitslose hat im Unterschied zum Geringverdienenden nicht einmal die Chance, auf die Verbesserung seiner Lebensbedingungen hinzuwirken. Er befindet sich, wie Kritiker bereits formulierten, in einem unsichtbaren „Gefängnis“. Das kann ein Staat, der sich vor allem auf die Freiheit des einzelnen beruft, nicht dulden. Deshalb wird für zusätzliche „Jobs“ alles getan, werden Schein-Arbeitsplätze in großem Umfang staatlich finanziert. Dafür werden notfalls sogar die primären Aufgaben, wie Infrastruktur, Bildung, Ruhe und Ordnung, vernachlässigt. Natürlich bringt auch das die Wähler gegen die Regierung auf, und andere Parteien versprechen immer wieder das, was sich längst als unmöglich erwiesen hat: das individuelle Glück für alle.
Daß die Politik spätestens im 20. Jahrhundert unter das Primat der Ökonomie gerät, haben schon viele Konservative festgestellt und kritisiert. Die meisten beharren allerdings darauf, daß sich dieser Zustand politisch ändern ließe. Um dies möglich zu machen, muß erst einmal die Bedeutung von „Politik“ umdefiniert werden, und darin hat sich vor allem der deutsche Staatsrechtler Carl Schmitt in der Zeit nach 1918 hervorgetan, als sich in den parlamentarischen Demokratien bereits die gleichen Zustände wie heute andeuteten.
Politik ist seit der Antike als das urmenschliche Streben nach einer gerechten Lebensordnung aufgefaßt worden. Allerdings galten in der Antike nicht alle Menschen als Menschen, sondern nur griechisch bzw. lateinisch sprechende Vollbürger. In diesem Sinne hat Aristoteles den Menschen als „politisches Wesen“ definiert. Platon hatte in seinem Werk „Der Staat“ den Vorschlag für eine zwar hierarchische, aber durch und durch vernünftige Ordnung unterbreitet. Jeder sollte dieser Ordnung mit voller Überzeugung zustimmen können.
Als sich das christliche Mittelalter dem Ende zuneigte, hat man diese antiken „humanistischen“ Vorstellungen wieder aufgegriffen. Mit dem 18. Jahrhundert beginnt schon die Forderung nach einer sozialen Gerechtigkeit zur Erfüllung der bürgerlichen Rechtsgleichheit. Auf dieser Linie und nach diesem Politikverständnis ist die Entwicklung zum „Primat der Ökonomie“ vollkommen logisch und unvermeidlich. Solange der Mensch der alleinige Maßstab des politischen Handelns ist, wird am Ende die Forderung nach „Reichtum für alle“ stehen, wie es Gregor Gysi so erfrischend offen formulierte. Auch die Zwischenstufe des Nationalismus (vor allem im 19. Jahrhundert) ändert daran nichts, denn wenn schon alle Menschen innerhalb der Grenzen eines Staates gleich und frei sein sollen, dann gibt es logisch überhaupt kein Argument mehr, weshalb es nicht auch alle außerhalb dieser Grenzen fordern dürfen.
Was Carl Schmitt, wie alle Konservativen, im Grunde vermißt, ist die göttliche Ordnung, in die der Mensch sich gehorsam einzuordnen hat. Was das in der Praxis bedeuten kann, hat Helmut Lazina in der letzten Ausgabe dieser Zeitschrift unter dem Titel „Die Reichs- und Kaiser-Idee im Abendland“ ausgeführt. Die mittelalterliche Reichsidee ist allerdings nicht das einzige historische Beispiel für eine Politik unter dem Primat der Religion. In seiner Schrift „Herrschaft und Heil“ hat Jan Assmann das alte Ägypten und in ganz anderer Weise das Volk Israel als theokratische Systeme vorgestellt. (s. Jan Assmann, Herrschaft und Heil. Politische Theologie in Altägypten, Israel und Europa, Ffm. 2002) Sicher ist die Theokratie insgesamt die ältere Ordnung und die griechische Demokratie eine relativ neue Sonderform, die allerdings im Verlauf der Geschichte die Oberhand gewonnen hat.
Schmitt wagt es allerdings nicht, seine Sympathie für die Theokratie offen auszusprechen, weil er sich auf das Christentum als Träger dieses Ordnungsgedankens nicht mehr verlassen kann. Vielleicht nicht mal bei sich selbst, gewiß nicht bei der Mehrheit der Europäer. Aus diesem Grunde findet eine merkwürdige Politikkonstruktion statt, die sich an der Praxis europäischer Fürstenhöfe während einer kurzen Zeitspanne zwischen dem Schwinden des mittelalterlichen und dem Aufkommen des humanistischen Weltbildes orientiert. Sozusagen zwischen zwei Fundamenten in der Luft hängend, hatte damals Thomas Hobbes (1588–1679) behauptet, daß „der Mensch des Menschen Wolf“ sei und der Staat dazu diene, die gegenseitige Vernichtung durch eine rein willkürliche Macht zu verhindern. Abgesehen davon, daß Wölfe als ausgesprochene Rudeltiere sich gegenseitig nichts tun und sogar zusammenarbeiten, ist der Mensch kein Tier, sondern gilt als Vernunftwesen, wenn nicht als Ebenbild Gottes. Die Auffassung von Politik als reiner Machtwirkung läßt sich nur aus der zeittypischen Hilflosigkeit erklären und spielt weder im Liberalismus noch im Marxismus und nicht einmal im Nationalsozialismus eine Rolle. Nur dann, wenn Konservative den unbestreitbaren Verfall der politischen Kultur in der Gegenwart beklagen, kommt unweigerlich die Konstruktion vom „Freund und Feind“ aufs Tapet.
Wenn der „Dezisionismus“ als Ultima ratio nicht funktioniert, bleiben in der Tat nur zwei Wege: entweder wir gehen zurück zum alten Reich, wie es Helmut Lazina in dem erwähnten Beitrag offenbar vertritt. Allerdings sagt er kein Wort darüber, wie das zu geschehen hätte und wie ein solches Reich heute aussehen soll. Er begnügt sich mit der eindeutigen Ablehnung des Zweiten und des Dritten Reiches und spricht nicht ausdrücklich von einem Vierten. Wer allerdings die „Staatsvergottung“ im Kommunismus und im Liberalismus sowie in der Philosophie Hegels ablehnt, müßte einen eigenen „Gott“ vorzuweisen haben. Sonst geht nämlich der Staat zugunsten eines verabsolutierten Individuums unter – und genau das ist ja unser Problem.
Es gibt durchaus Christen, die eine neue Verbindung von Kirche und Staat fordern. Für die Islamisten ist der „Gottesstaat“ bekanntlich die einzig mögliche Option. Die orthodoxen Juden lehnen aus dem Grunde Israel ab, weil es sich eben nicht um ein religiös motiviertes Unternehmen handelt. Und es ist mehr als logisch, wenn man an einen Gott glaubt, daß dieser auch für die politische Gestaltung zuständig sein soll. Der Rückzug des Christentums ins Private im Zuge der Reformation hat sich im nachhinein als bloße Kapitulation erwiesen. Seitdem die Kirche vom Staat getrennt ist, hat sie immer weniger Bedeutung. Oder umgekehrt: sie mußte sich vom Staat trennen, um diesem das Feld der Entscheidungen zu überlassen. Wer also gläubig ist, der möge beherzt für die politische Umsetzung seiner Glaubensinhalte eintreten. Das darf man heute nicht den Islamisten überlassen.
Doch wer nicht gläubig ist? Nicht zu glauben, wird man sich bald nicht mehr leisten können. Wenn die bürgerlichen Nationalstaaten weiter an Bedeutung verlieren, gibt es bald keinen mehr, der unseren gepflegten Skeptizismus praktisch schützt. Wer also nicht auf die alten kulturgesättigten Gottheiten setzen will, muß den zweiten Weg wählen und sich einen neuen Gott suchen. Am stärksten erscheint derzeit der „Klimagott“, eine Erscheinungsform des „Ökologengottes“, der wiederum eine Auferstehung alter Naturgötter sein könnte. Etliche glauben schon an ihn, ohne bisher viele Opfer gebracht zu haben. Mülltrennung und Müsliessen vertragen sich durchaus mit dem gewohnten westlichen Lebensstil. Doch wenn der grüne Gott einmal die Fäuste erheben sollte und tatsächlichen Verzicht verlangt, fallen dann die modischen Anhänger von ihm ab oder werden sie zu einer echten Gemeinde? Der „autofreie Sonntag“ jedenfalls, der uns noch in vager Erinnerung ist, hatte im Land geradezu eine Festtagsstimmung erzeugt. Fremde Menschen sprachen miteinander. Das passiert Weihnachten nicht – zumindest nicht in den großen Kirchen.