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Massenkultur

Von Martin Lichtmesz

 

Notizen zur Popkultur

Gibt es ihn denn eigentlich wirklich noch, diesen konservativen Affekt gegen „die Popkultur“ als Hort der Vermassung und der Verkitschung, des Kommerzes und des Konsums, als große, plärrende, glitzernde Dampfwalze, unter der alle wirkliche Kunst und Kultur plattgewalzt werden? Als Verderber der Jugend, die durch Rock- und Popmusik zu Drogenmißbrauch, Hedonismus, sexueller Libertinage und vulgären Moden animiert wird und die sich damit die Ohren und Augen für feinere Töne verkleistert? Was ist „Pop“ heute überhaupt? Ist das nur Viva, MTV, Big Brother, „Deutschland sucht den Superstar“, „Germany’s Next Topmodell“, der Eurovisions-Songcontest, die allgegenwärtigen Celebrity-News über Sänger, Filmstars und Sportler? Und was ist dagegen Kultur im Zeitalter „nach den Kulturen“ (Frank Lisson), in der post-postmodernen Beliebigkeit, da sich nur wenige noch erinnern können, welche Morphosen dieser Begriff inzwischen hinter sich hat?

In Staatsbriefe 11/2000 stellte Hans-Dietrich Sander die These auf, daß es „in Deutschland eine Kultur, eine deutsche Kultur“ gar nicht mehr gäbe. Ein „stringenter Beweis“ dafür sei, „daß seit langem die Rede von Kulturpessimismus verstummt ist“. Sie sei hinfällig geworden, „jetzt, da es keine Kultur mehr gibt. (…) Die Deutschen, die heute leben, haben den Lebenszusammenhang mit ihren klassischen Künsten und ihrer Philosophie verloren, haben ihre Sitten und Brauchtümer hinter sich gelassen, sind bar von Innerlichkeit, Empfindsamkeit und strenger Begrifflichkeit, die einst den deutschen Volksgeist krönten. Es gibt in grosso modo nur noch museale Bezüge, wozu nicht nur Museumsbesuche, sondern auch Konzertgänge gehören“. Kultur werde heute nicht mehr geleistet und aktiv nachvollzogen, sondern allenfalls konsumiert: „Was von Kultur übrig blieb, ist nicht mehr als Unterhaltung.“ Das gilt gewiß auch für das, was ursprünglich „populäre“ Kultur, nämlich Volks-Kultur, bedeutete.
Globaler Kulturschwund
Dieser Kulturschwund habe indessen den gesamten Erdball ergriffen. Es scheint, daß sich ein ganzes Zeitalter global im Übergang von der Kultur in die Zivilisation befände, wie die berühmte Formel der Kulturkritik seit dem späten 19. Jahrhundert lautete. Sander zitierte André Gide, der 1938 in seinem Tagebuch bemerkte: „Ja, das alles könnte gut verschwinden, die Kulturleistung, die uns so bewunderungswürdig erschien (…). Wenn man so weiter macht, wird es bald nicht mehr viele Leute geben, die Bedürfnis danach haben, die etwas davon verstehen, nicht mehr viele Leute, die merken, daß man nichts davon mehr davon versteht.“ Ähnlich Frank Lisson in seinem Buch „Homo Absolutus“: „Der Kulturmensch warnt vor einem Zustand, von dem er weiß, daß, wenn er erreicht worden ist, niemand mehr wissen wird, wovor eigentlich gewarnt wurde, weil der Mensch dann das verkörpert, was zu werden er verhindern wollte.“      
Es ist sicherlich die Pflicht und das Vorrecht des Konservativen, diesen Blickwinkel und Maßstab im Auge und in der Erinnerung zu behalten, worin auch die Erinnerung an die Zeiten vor der Heraufkunft der Massenkultur und, damit unweigerlich verbunden, der Massendemokratie inkludiert ist. Ein Konservativer dieser Art (wohl ein aussterbender Typus) ist nicht notwendigerweise ein Mann der Rechten. Man denke an Theodor W. Adorno, der der Massenkultur, – also dem, was wir heute als „Popkultur“ bezeichnen würden –, zutiefst mißtraute und sie beschuldigte, die Kulturgüter in bloße Waren zu verwandeln. Die in eine „Kulturindustrie“ umfunktionierte Kultur diene nur mehr dem Konsum, dem Kommerz, dem Kapitalismus und dem Konformismus. Dagegen hielt Adorno an einem elitären Kunstbegriff fest. So erschien ihm die Musik Schönbergs als sperrig genug, sich der Konsumierbarkeit zu widersetzen. Als die „Neue Linke“ der späten sechziger Jahre auf den Wellen von Pop und Rock zum unaufhaltsamen Siegeszug ritt, stand Adorno dieser Entwicklung mit Befremden, ja Erschrecken und Verachtung gegenüber. Eine vom „Pop“ beherrschte Welt hat aus der Adornoschen Perspektive Züge des Zukunftstaats aus François Truffauts Bradbury-Verfilmung „Fahrenheit 451“ (1966), der die Lektüre und den Besitz von Büchern  verboten hat, und eigene „Feuerwehr“-Brigaden beschäftigt, die sie aufspüren und vernichten sollen. Inzwischen läuft jegliche mediale Kommunikation über sprechblasenlose Comics und bunte Breitwandbildschirme mit stupiden TV-Shows und Moderatoren, die die Zuschauer duzen. Die Waffen gegen diese Welt, die der dissidente Feuerwehrmann Montag für sich entdeckt, heißen Dostojewskij, Dickens oder Balzac. Ist nicht auch das eine romantische, hoffnungslos altmodische Vorstellung?

E und U

Nun sind die Fronten zwischen „Kultur“ einerseits und „Pop“ andererseits, ebenso wie zwischen dem „E“ (ernst) und dem „U“ (unterhaltend) heute längst nicht mehr so klar, wie sich das Adorno und andere Kulturkritiker einst vorgestellt haben – wenn sie es denn überhaupt jemals waren. Die große Frage ist, ob es denn so etwas wie Vernunft und Sinn in den Affekten, Wünschen, Vorlieben und im Willen der Masse gibt. Sind sie ein vitaler, legitimer Ausdruck des Menschlichen, oder meldet hier nur der innere Schweinehund seine Bedürfnisse an? Im Grunde hat die Kritik an der Massenkultur dieselben Wurzeln wie die Kritik an der Massendemokratie. Man könnte überspitzt sagen: Die Kritik am Populären ist immer auch eine Kritik an der Demokratie, inklusive aller Zweischneidigkeit, mit der etwa ein liberaler Apologet der Demokratie vor ihr erschrickt, wenn sie zu Ergebnissen kommt, die er als regressiv, reaktionär, geschmacklos und unaufgeklärt empfindet. Die Massenkultur umgibt uns inzwischen wie die Luft zum Atmen und ausnahmslos jeder Mensch partizipiert in der einen oder anderen Weise an ihr. Ikonische Popstars, Cartoonfiguren und Filmszenen sind Teil unseres kollektiven Bewußten und Unbewußten geworden, dienen weltweit quer durch alle Nationen und politischen Lager hindurch als Symbole der Verständigung, erzeugen tatsächlich so etwas wie die Illusion eines „global village“ und einer gemeinsamen transnationalen Kultur US-amerikanischer Prägung.
Hier gilt längst, was Federico Fellini einmal über den Aufstieg des Fernsehens bemerkte: Sich dagegen zu erheben, sei genauso sinnlos wie gegen die Schwerkraft oder gegen Vanilleeis anzukämpfen. Fellini sah in der lautstarken Primitivität des Fernsehens eine Bedrohung des klassischen Kinos, mithin einer Kunstform, die wie keine andere vom Kommerz und von der Massenkonsumption abhängig war und ist, und die direkt aus dem populärem Amüsement hervorgegangen ist. Der Film begann als Varieté-Nummer und hatte lange Zeit den Ruf des Vulgären, des Tingeltangels und des künstlerisch Minderwertigen an sich; als Unterhaltung für die Ungebildeten, die sich entlang des Geschmacks der Plebs prostituiert. Ziemlich rasch entwickelte sich der Film allerdings zur bedeutendsten Ausdrucksform des 20. Jahrhunderts. Sie hat Werke hervorgebracht, denen man auch an strengsten Maßstäben gemessen den Kunstcharakter nicht absprechen kann und die gleichzeitig ein Millionenpublikum gefunden haben. Inzwischen ist auch das Fernsehen erwachsen geworden: TV-Serien wie „Die Sopranos“ oder die stylische Sechziger-Jahre-Retro-Serie „Mad Men“ etwa bewegen sich auf einem zum Teil stupenden Niveau, was ihre Popularität und ihren kulturellen Einfluß eher noch verstärkt hat.
Ähnliches gilt für die Pop- und Rockmusik. Auch deren Theoretiker versuchten, Subkategorien einzuführen, um die Lämmer von den Böcken zu scheiden, etwa den „bösen“ Kommerz (z. B. Britney Spears und Mariah Carey) vom „guten“ Independent (z. B. P. J. Harvey und Patti Smith) zu unterscheiden. Der künstlerische Abstand zwischen Lena Meyer-Landrut und Scott Walker ist wohl in etwa so groß wie der zwischen Bohlen und Bach, dennoch werden beide als „Pop“ kategorisiert.  Während die E-Musik sich im 20. Jahrhundert in spröde Verweigerungshaltung und Selbstdekonstruktion aufgelöst hat, ist ihr Genius in das Populäre hinübergewechselt, wie auch die vergleichbar abgewirtschaftete gegenständliche Malerei im Comics, im Fantasy, im Pastiche, im Gefälligen,  Softpornographischen und im Kitsch ihr (zum Teil durchaus beachtliches!) Refugium gefunden hat.
Es ist im Populären, wo viele der großen musikalischen Werke des 20. Jahrhunderts entstanden sind, und nur ein erweitertes Banausentum wird sich dieser authentischen modernen Kunst verschließen können: von klassischen Rockbands wie den Beatles, Who, Doors, Rolling Stones, Led Zeppelin, Roxy Music oder Joy Division über Bob Dylan, David Bowie, Lou Reed bis zu den großen europäischen Liedermachern wie Georges Brassens, Jacques Brel oder Fabrizio de André, über  Kurt Weill, Leonard Bernstein, George Gershwin zu Filmkomponisten wie Mikis Theodorakis, Georges Delerue, Maurice Jarre und Ennio Morricone.
Das alles ist „Pop“, und wenn auch nicht alles davon Kunst sein mag, so finden die Wahrheiten des Menschseins im 20. und 21. Jahrhundert auch in seinen minderwertigeren Erzeugnissen oft einen prägnanteren Ausdruck als in noch so dickleibigen soziologischen Studien. Als Oscar Wilde sagte: „Everything popular is wrong“, sprach er als Snob, der wieder eine provokante Pointe gefunden hatte. Gilbert Keith Chesterton hat ihm widersprochen, als er etwa eine „Verteidigung der Schundliteratur“ schrieb: „Die populäre Literatur mit ihren ‚Donner und Blut‘ wird stets einfach sein wie der Donner unter dem Himmel und das Blut der Menschen.“ „Ich höre mir nur Schlager an“, läßt François Truffaut seine Heldin in dem Film „Die Frau von nebenan“ (1980) sagen. „Weil sie die Wahrheit sagen. Je dümmer sie sind, umso wahrer sind sie.“  Die Popkultur ist nicht einfach nur ein Instrument der Gehirnwäsche und der Verdummung – sie ist auch ein Spiegel und ein Seismograph, paßt sich den Bedürfnissen ihres Publikums ebenso an, wie es sie umformuliert und beeinflußt.

Pop und Politik

Diese Aspekte der Popkultur – daß ihre Erzeugnisse auch Kunst sein, daß sie auch ein Allgemein-Menschliches widerspiegeln können, und ihr seismographischer Charakter – seien deshalb hervorgehoben, weil sie erst die Frage nach ihrem politischen oder metapolitischen Wert in die richtige Relation bringen. Die in entsprechenden Kreisen immer wiederkehrende Diskussion, ob und wie ihre Ausdrucksformen auch von rechts genützt werden können, zäunen das Pferd von hinten auf. Da finden sich dann Konservative, die mit zusammengebissenen Zähnen eine patriotische Rapperin oder einen gröhlenden Rechtsrocker gut finden (wollen), weil dies ja irgendwie der guten Sache diene. Kunst- und Ausdrucksformen aber gefrieren unter dem kalten Blick dessen, der sie rein unter dem Aspekt der Instrumentalisierung betrachtet. Ebenso wird eine reine „Message“-Musik schnell langweilig und banal, greift – wie etwa der Rechtsrock – kaum über ihre Nischen hinaus. Eine gute Melodie ist tausendmal wirksamer als der schönste Agitproptext, von der Marseillaise über die „Internationale“ bis zum Horst-Wessel-Lied.
Schon der diabolische Meister seines Fachs, Joseph Goebbels, wußte, daß Propaganda dezent dosiert werden muß, um nicht lästig zu werden. So blieb die Popkultur des Dritten Reichs weitgehend „unpolitisch“, ja ließ sogar gelegentlich eine gewisse Ironisierung der nationalsozialistischen Ideologeme zu (man denke an Zarah Leanders Hit „Er heißt Waldemar“). Die meisten populären Lieder und Filme dieser Zeit haben nichts mit der NS-Ideologie zu tun – die Aura ihrer Entstehungszeit bleibt allerdings an ihnen haften. Die verbreitete Vorstellung, daß Pop politisch, etwa per se „links“ sei, hat eine gewisse Berechtigung, geht aber weniger auf direkte politische Inhalte zurück, sondern eher auf ein allgemeines Lebensgefühl und „Image“ von jugendlicher Rebellion, Hedonismus, Befreiung von Zwängen, Sturz des Althergebrachten, das mit dem Rock’n’Roll und seinen Folgen konnotiert wird. „Roll over Beethoven, tell Tschaikowsky the news“ sangen Chuck Berry und die Beatles. Da Pop per definitionen auf den Wogen und Strömungen des Zeitgeistes schwimmt und sich von ihnen nährt, trägt er heute freilich stets einen warmen Wind aus dem liberalen und linken Eck  in seinen Segeln. In der Folge wird auch die „Rebellion“ zu einem Konsumartikel, und damit eingehegt und ad absurdum geführt.  
Insofern der gefühlte politische Gehalt von Pop zu einem Großteil auf seiner eher „metapolitischen“ Aura basiert, während sein Appeal im Prinzip universell ist, sind die politischen Berührungsflächen allerdings reichlich vorhanden. Und insofern ein Kulturerzeugnis tatsächlich Kunst ist und/oder den Nerv der Zeit trifft, ist es nicht mehr eindeutig links oder rechts, sondern für jedermann offen, der sich davon in irgendeiner Weise angesprochen fühlt: Pop ist für alle da, wie Jesus und Hitler. Die Linke tut gerne so, als wäre die Rechte ein rein abseits stehender, isolierter Haufen, der von der Mainstreamkultur und ihren Diskursen völlig und wie selbstverständlich ausgeschlossen sei. Das stimmt nur formal, nicht aber inhaltlich. Am Ende leben Linke wie Rechte in derselben Welt. „Rechte“ Themen, Motive und Anknüpfungspunkte finden sich überall für den, der sie zu sehen vermag, in der Träumen der Menschen ebenso wie in ihrer konkreten Lebenswirklichkeit.
Von hier aus kann ein Kunstwerk, ein Bild oder ein Lied auch ein Eigenleben gewinnen, das sich weit von dem entfernt, was im Sinne seines Schöpfers lag. Ein Beispiel für eine recht hemmungslose, ikonoklastische Okkupation bieten etwa die römischen Neofaschisten, die sich um das inzwischen mediennotorische besetzte Haus „Casa Pound“ in Rom geschart haben. Die „Poundistas“ arbeiten nicht nur mit einer geschickten Ikonographie, die an Comics und Filme (wie etwa „Fight Club“, „300“, „Tropa de Elite“ oder „Clockwork Orange“) anschließt, sondern scheuen sich auch nicht, E- und U-Kultur hemmunsglos zu vermischen. Die berühmte „Ruhmeshalle“ des Hauses vereint in poppig-bunten Lettern Namen wie Evola, Jünger und Marinetti mit Comic-Figuren wie Corto Maltese und Captain Harlock, Friedrich Hölderlin und Friedrich II. von Hohenstaufen mit Ian Stuart („Skrewdriver“) und Leni Riefenstahl, Mussolini mit Charles Bukowski und Jack Kerouac. Im Sommer 2009 fanden sich in ganz Rom Poster mit dem Konterfei des 1980 verstorbenen linken Liedermachers Rino Gaetano, allerdings versehen mit dem berüchtigten Schildkröten-Logo der Schwarzhemden. In deren Hausorgan Occidentale fand sich ein ausführliches Plädoyer für diese dreiste Beschlagnahme, und indirekt auch für den Pop überhaupt. Müsse man denn unbedingt ein Linker sein, um Rino Gaetanos Lieder zu lieben? Wenn sich in ihnen doch alles fände, wofür auch die Casa Pound stehe: „Die Liebe zu allem, was die Welt mit Ironie betrachtet, zur Poesie, zur Provokation, Freiheit, zur Gerechtigkeit.“ Auch „D’Annunzio, Marinetti, Jünger, Evola, sogar Mussolini“ hätten auf der Höhe ihrer Zeit gelebt und gedacht: „Keine Weltflucht, keine Weltuntergangshysterien. Wille, Taten, Freude, Freiheit. Das allein zählt.“  

Pop ist Subversion

Dergleichen Aneignungen funktionieren auch deswegen, weil Pop natürlich auch für Spiel, fröhliche Oberflächlichkeit und die lustvoll narzißtische Pose steht – Dinge, die einem Italiener leichter fallen mögen als einem Deutschen (und einem Linken leichter als einem Rechten). Und die für manche Poptheoretiker eine immense politische Bedeutung haben. Wehe, wenn hier einer ernst macht – dann hört für die Apologeten dieses Aspekts der Spaß auf. Als im Sommer 2007 der „Popliterat“ Christian Kracht der aus der Neofolk-Subkultur stammenden Zeitschrift Zwielicht ein kurzes Interview gab, schlug die Süddeutsche Zeitung auf einer ganzen Seite Alarm; da wurde Kracht nicht nur seine kokette Schwärmerei für Nordkorea und seinen Diktator Kim Jong-Il vorgeworfen, sondern auch seine offenbar mangelnden Berührungsängste gegenüber einer Szene mit rechtslastigem Image. Gerade letzteres vertrüge sich doch gar nicht mit Pop, und wo Adorno noch „Pop und totalitäres Denken“ von Natur aus eng benachbart sah, da sah der Autor des Artikels erst „in den letzten Jahren eine stille Allianz“ zwischen beiden heraufdämmern, und zwar in Subgenres wie „Neo-Folk-, Industrial-, Black Metal- und Darkwave-Musik“:
„Als Pop-Besessener müsste gerade Christian Kracht einen wesentlich tieferen Einblick in die antimodernistischen und rechten Abgründe haben, wie sie in den bis dato erschienenen Ausgaben von Zwielicht aufscheinen, um zu sehen, daß diese der eigentlichen Vorstellung von Popkultur widersprechen. Bedeutete Pop doch ursprünglich unter anderem kulturelle Emanzipation, Irritation, Innovation, Subversion, Auflösung von vorgegebenen Strukturen, die Verabschiedung von tradierten Werten, Brechung und Umcodierung bestehender Bedeutungszusammenhänge durch Ironisierung.“
Sperrgerümpelige Sätze wie diese sollen natürlich eifersüchtig das Monopol auf ein okkupiertes Terrain abstecken. Ironischerweise lesen sie sich geradezu wie eine Programmatik des Neofolk- & Industrialkomplexes. In der lächerlich gewordenen Illusion eines ewigen linken „Widerstandes“ befangen, vergaß der Autor, daß in einer Welt, in der sich linksliberale Werte kulturhegemonial durchgesetzt haben, „die Verabschiedung von tradierten Werten, Brechung und Umcodierung bestehender Bedeutungszusammenhänge durch Ironisierung“ fast schon zwangsläufig von einer ganz anderen Seite kommen müssen. Folgerichtig hat sich Zwielicht, das sich seinerseits bewußt zum Pop und zur Traditionspflege von Wave und Post-Punk bekennt, für die jüngste Ausgabe vom Juni 2010 den SZ-Slogan von „Irritation Subversion Auflösung“ als Untertitel unter den Nagel gerissen.   

 

 Patriotischer Pop?

Schließlich wäre noch die Frage zu klären, inwiefern nun Pop nationale und patriotische Inhalte transportieren kann und auch soll. Freilich ist Pop im Prinzip eher kosmopolitisch orientiert, schon deswegen, weil er von internationalen Märkten abhängig ist. Aber insofern das Nationale und das Demokratische nicht voneinander zu trennen sind und die Demokratie vom Populären lebt und immer schon gelebt hat – wie auch jede Fußball-WM oder -EM zeigt –, besteht hier kein notwendiger Widerspruch. Im Gegenteil wäre Popmusik hierfür theoretisch ein idealer Träger, zumindest, was den Patriotismus der Gefühle betrifft, der immer wieder auf sein Recht pochen wird. Schon 1983 sang die Neue Deutsche Welle-Band Nichts: „Deutsch sein/ niemandem sagen/ nur Angst vor Fragen/ Scham für mein Land. Stolz sein/ ist mir verboten/ bin hier geboren/ mich trifft keine Schuld./ Ich sing ein deutsches Lied/ ich sing ein deutsches Lied/ und will es keiner hören / ich sing ein deutsches Lied ...“
In der Wirklichkeit sieht es freilich anders aus: da geraten auch noch die harmlosesten Ansätze eines positiven Nationalgefühls im Pop sofort unter Beschuß, bis sie sich nicht mehr hervorwagen, nicht nur in Deutschland.
Nun aber sind noch zwei Dinge zu bedenken: Der „deutscheste“ Song ist nicht unbedingt derjenige, in dem ständig von Schwarz-Rot-Gold und ähnlichem die Rede ist. Formen des Pop, die von einer nationalen Eigenart beseelt sind und die sich als unverwechselbare Exportartikel in alle Welt verkaufen lassen, wie etwa der klassische französische Chanson, der Krautrock, der Italo- und Britpop oder die Neue Deutsche Welle, schöpften aus anderen Quellen als aus dem Zwang zum Selbstaffirmativen.
Und schließlich hat den bloßen Pop-Patrioten schon Ernst von Salomon treffend beschrieben:  „Der patriotische Deutsche ist der Schlagwortdeutsche, der kitschige Deutsche, der schlechte Deutsche, der passive Deutsche, der Ballast jeder Bewegung, der ein schlechter Herr ist und ein schlechter Knecht. Patriotismus, das ist, wenn Fahnen wehen und Bierkrüge klappern und ein Dunst schwebt über den Menschen, wenn ein Rausch da ist, wo Begeisterung sein sollte, wenn eine Gesinnung da ist, und keine Gestaltung.“

 
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