Ein polnischer Abgeordneter sagte um die Jahreswende 1917/18 im österreichischen Reichsrat: „Auf diesen Krieg [zwischen den Teilungsmächten] haben wir 130 Jahre lang gewartet!“ Der Fall der Kaiserreiche führte 1918 zur Entstehung einer Reihe von erstmals unabhängigen Staaten in Mittel- und Osteuropa, gruppiert um das wiederhergestellte Polen. Wichtiger als die Pariser Vororteverträge 1919/20 erwies dabei der Friede von Brest-Litowsk im März 1918, der zur Loslösung der Ukraine, der baltischen (und der transkaukasischen) Staaten von Rußland führte. Der Russische Bürgerkrieg – als relativ kleine Armeen um die Herrschaft über riesige Gebiete rangen – endete 1920 mit der Besetzung der Ukraine durch die Bolschewiki; ihr Generalangriff gegen Westen aber scheiterte mit dem „Wunder an der Weichsel“ im August 1920.
Für „Zwischeneuropa“ galt angesichts der latenten Konfrontation mit der Sowjetunion in der Zwischenkriegszeit fast ausnahmslos der Slogan des polnischen Marschalls Pilsudski: „Augen ostwärts“. Noch der deutsche Feldzug gegen die Sowjetunion 1941 nach der vorhergehenden Hitler-Stalin-Kumpanei wurde im Baltikum und der Ukraine deshalb in der Regel begrüßt. Für Polen galt als Lehre aus dem 1. Weltkrieg, ideal sei ein deutscher Sieg im Osten, gefolgt von einer deutschen Niederlage gegen die Westmächte. Doch der 2. Weltkrieg folgte diesen Vorgaben nicht. Die Rote Armee blieb siegreich; der „Westen“ gab Polen preis, dessen Ministerpräsident im Londoner Exil 1944 lieber Lemberg und Wilna behalten hätte – als Breslau und Stettin zu gewinnen.
„Zwischeneuropa“ wurde gegen seinen Willen nach Westen verschoben. Es verblieb nach 1945 in verschiedenen Formen direkter und indirekter sowjetrussischer Herrschaft. Der Kollaps der Sowjetunion führte dafür nach 1990 zu einer Renaissance der politischen Landschaft, wie sie der Sieg der Mittelmächte im Osten 1918 geschaffen hatte – wenn auch hie und dort belastet mit der Hypothek der russischen Zuwanderung seit 1945. Eine Ausnahmestellung nimmt dabei – wie 1919/20 – wiederum die Ukraine ein, ein Land mit nach Osten offenen Grenzen, die provisorisch einmal von den Kommunisten festgelegt wurden, paradoxerweise aber heutzutage von ihren Gegnern mit Zähnen und Klauen verteidigt werden.
Univ.-Prof. Dr. Lothar Höbelt, 30. Juni 1956 in Wien, Historiker und außerordentlicher Professor für Neuere Geschichte an der Universität Wien. Seine Forschungsschwerpunkte sind die Politik- und Verfassungsgeschichte des 19. und 20. Jhdts. und die Zeit des Dreißigjährigen Krieges. Zahlreiche Veröffentlichungen zur politischen und Militärgeschichte; zuletzt unter anderem „Böhmen“ (2012), „Franz Joseph I.: Der Kaiser und sein Reich. Eine politische Geschichte“ (2009)“ sowie „Ferdinand III. – Friedenskaiser wider Willen“ (2008).