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Zivilreligion

Von Rolf Rücker

Auf dem Weg in ein Europa ohne Gott

Immer häufiger taucht in der politischen und kulturellen Diskussion der Begriff der Zivilreligion auf. Es erscheint daher angebracht, sich mit diesem Begriff vertieft auseinanderzusetzen. Jede Zivilreligion richtet an Stelle des Glaubens an transzendente Mächte und des Bekenntnisses zu diesen, Glaube und Bekenntnis definitionsgemäß ausschließlich auf das Diesseits. Das theozentrische Weltbild wird zum anthropozentrischen, die Bezogenheit auf Ewiges zu jener auf das Zeitliche. Im Mittelpunkt des Seins und Geschehens steht nicht mehr Gott, sondern der Mensch, letzterer freilich in der von der Zivilreligion vorgegebenen Gestalt. Jede Zivilreligion ist damit auch eine politische Religion.

Die erste Zivilreligion entstand vor 300 Jahren als Produkt der Aufklärung. Bereits Gottfried Wilhelm Leibniz (1646–1716) operierte mit dem Begriff des „cultus civilis“. Jean-Jacques Rousseau (1712–1778) nennt in seinem „Contrat social“ (1762) die Zivilreligion als verpflichtendes bürgerliches Glaubensbekenntnis. Unter den Maximen „Wage zu denken“, „Bediene dich deines Verstandes“ und „Befreie dich aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit“ (Immanuel Kant, 1724–1804) nahm die Aufklärung den berechtigten Kampf gegen einen wissenschafts- und erkenntnisfeindlichen Klerus auf. Das war den Protagonisten der Aufklärung aber bald nicht mehr genug, so daß die Aufklärer überschießend auch den Glauben an Gott in Frage stellten. Insbesondere die französischen Enzyklopädisten setzten an die Stelle des Gottesglaubens einen kruden Materialismus.
Die Französische Revolution von 1789 basierte auf der Aufklärung. Ihre Lehren wurden zur geltenden Zivilreligion. Folgerichtig schaffte sie Gott ganz ab und führte an Stelle der bisherigen christlichen Religion einen Kult der Vernunft und des Menschen ein. Sie deklarierte die Rechte des Menschen („Menschenrechte“), die sie unter der Devise „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit oder den Tod“ (!) an Gottes Stelle setzte. Diesen Tod brachte der Terror der Französischen Revolution etwa einer Million Menschen, so daß Raymond Secher mit Recht vom „genocide franco-francais“ sprechen konnte. Solcherart bewahrheitete sich der Satz „Wer den Himmel auf Erden schaffen will, schafft oftmals nur das Fegefeuer, meist aber die Hölle“. Dazu sollte es bis zur Gegenwart noch oftmals kommen.
Der Französischen Revolution von 1789 mit ihrer naturwidrigen Gleichheitsforderung und dem Kult der Massen entstammen der internationale und der nationale Sozialismus, die ein Jahrhundert später ihre Weltanschauungen und Programme ebenfalls mit den Mitteln des Terrors zur jeweils einzig gültigen Zivilreligion erhoben. Zwar gaben auch sie vor, den Menschen und dessen Befreiung in den Mittelpunkt des Seins und Geschehens zu stellen, doch wurde dieser im Falle des internationalen Sozialismus nur als Teil der werktätigen Klasse, im Falle des nationalen Sozialismus nur als Teil des höherwertigen Volkes, der höherwertigen Rasse, verstanden. Beide Sozialismen setzten auf die Masse, kreierten ein jeweils neues verbindliches Ethos und beanspruchten den ganzen Menschen. Beide Totalitarismen brachen zusammen, nachdem sie Millionen Menschen auf den Altären ihrer Zivilreligion hingeopfert hatten.
Robert N. Bellah nahm den Begriff der Zivilreligion 1967 erneut auf und stellte die These auf, daß es in der modernen liberalen Demokratie neben den auf transzendente Mächte ausgerichteten Religionen eine von diesen deutlich unterscheidbare, entwickelte und fest institutionalisierte Religion gebe, die sogenannte „civil religion“.
Wikipedia definierte 2009 unter Bezugnahme auf Bellah die Zivilreligion als Anteil einer politischen Kultur, die notwendig sei, damit ein demokratisches Gemeinwesen funktioniere. Grundsätzlich seien alle identitätsstiftenden oder akzeptanzschaffenden Elemente geeignet, für eine Kultur die Funktion religiöser Anteile zu erfüllen. Zivilreligiös in diesem Sinne seien alle jene kulturellen Anteile, die politisch nicht zur Disposition stehen, die also vom politischen Handeln allein nicht verändert, eingeführt oder abgeschafft werden können. Voraussetzung für eine Zivilreligion ist die strikte Trennung von Kirche und Staat, da staatliche und religiöse Zielsetzungen differieren. Da religiöse Aspekte aber auch in anderen als nur transzendent-religiösen Angelegenheiten mitentscheidend seien, entstehe der Begriff Zivilreligion, ein Begriff übrigens, der in den deutschen Lexika (Brockhaus, Knaur u. a.) in den 1970er Jahren noch keine Aufnahme gefunden hatte.

Menschenrecht statt Gottesfurcht

Daß es gegenwärtig wieder eine Zivilreligion gibt, ist somit nicht verwunderlich, ebenso, daß ihre Erscheinungsform eine neue, andere ist. Die westliche liberale Demokratie mit ihrer strikten Ablehnung jeglicher Verbundenheit des Gemeinwesens mit Transzendentem (man denke nur an die Verneinung des Gottesbezugs in der Diskussion um die Präambel des EU-Vertragswerks, der auch Politiker der sich als christlich bezeichnenden Parteien zugestimmt haben!) braucht daher eine andere Form von Religion, eine Zivilreligion eben. Daß diese ausschließlich diesseitsbezogen und ebenso ausschließlich materialistisch ist, ist die zwangsläufige Folge. Im Mittelpunkt dieser neuen Zivilreligion steht daher erneut nicht Gott, sondern der Mensch, ihr Ziel ist erneut die Gleichheit aller. Gleich wie die monotheistischen Religionen hat auch die gegenwärtige Zivilreligion ihre Gesetze und Dogmen. Auch sie verfolgt und bestraft Andersdenkende, wenngleich auch mit wesentlich subtileren Mitteln und Methoden als die vorhergegangenen Zivilreligionen. An Stelle der ewigen Seligkeit tritt das irdische größte Glück der größten Zahl der Angepaßten. Die Hölle findet ihre Entsprechung in Ausgrenzung, sozialer Deklassierung und Verfolgung.
Die gegenwärtig im liberal-demokratischen Westen geübte Zivilreligion als eine moderne zu bezeichnen, ist insofern unrichtig, als die Epoche der Moderne bereits durch jene der Postmoderne abgelöst erscheint. Von postmoderner Zivilreligion zu sprechen, ist jedoch methodisch ebenso fragwürdig, weil die derzeitige Zivilreligion ganz eindeutig ihre Wurzeln im Anfang der Moderne, der Epoche der Aufklärung, hat. Am meisten zutreffend erscheint daher, auch in bezug auf ihre Zeitgebundenheit, die Bezeichnung als westlich-demokratische Zivilreligion der Gegenwart, umso mehr, weil es ja weltweit noch immer eine andere Zivilreligion gibt, nämlich jene marxistisch-kommunistischer Observanz in unterschiedlichen Ausformungen. Auch ist zu berücksichtigen, daß die westlich-demokratische Zivilreligion der Gegenwart im deutschen Sprach- und Kulturraum eine spezifische Ausformung erfahren hat. Damit sind wir bei der Frage angelangt: Was ist diese gegenwärtige westlich-demokratische Zivilreligion, welches sind ihre Charakteristika?
Eindeutig ist, daß in immer höherem Maße das Konstrukt einer säkularen Zivilreligion die überkommene Religion im ehemals christlichen Abendland ersetzt. Diese Zivilreligion setzt an die Stelle des christlichen Glaubens, der Europa zwei Jahrtausende hindurch nachhaltig geprägt hat, das verbindlich gemachte, ausschließlich diesseitsbezogene Bekenntnis zur Gleichheit aller Menschen, zu universalen Menschenrechten, zur Demokratie und zum Holocaust. Auch der reichlich schwammige, jedoch nie eindeutig definierte Begriff der sozialen Gerechtigkeit ist in diesen Kontext einbezogen. Daß die Gleichheit eine so bedeutende Rolle spielt, hat nicht nur politische Gründe. Es ist dies auch ein Tribut an die Neidgenossenschaft, in der niemand mehr haben darf, als man selbst (Harald Mahrer). Ähnlich äußert sich Peter Sloterdijk, wenn er Ressentiments und Gier als Wurzeln des Umverteilungsstaates mit seinem steten vorgeblichen Streben nach sozialer Gerechtigkeit ortet und den Sozialstaat als „institutionalisierte Kleptokratie“ bezeichnet. Zivilreligion und Zeitgeist stehen in einem gegenseitigen Abhängigkeitsverhältnis.
Die Zivilreligion, mit der sich der vorliegende Text auseinandersetzt, hat ihre eigene Gedankenwelt: Agnostizismus bis hin zum Atheismus, Relativismus, Skeptizismus und Subjektivismus, Egalitarismus, Autonomie, Emanzipation und Feminismus. Die Zivilreligion verneint, daß es eine unveränderliche objektive Wahrheit gibt, die mit der Vernunft erkannt werden kann und alle Menschen in gleicher Weise verpflichtet. Die ausschließlich diesseitsbezogene Zivilreligion duldet nichtsäkulare, also jenseitsbezogene Religionen so lange, wie diese den Pluralismus bejahen und sich dem liberalistisch-demokratischen Zeitgeist unterwerfen. Versuchen diese Religionen jedoch, ihr überkommenes Glaubensgut unverfälscht und ohne Rücksichtnahme auf diesen Zeitgeist zu vermitteln, dann werden sie als undemokratisch, autoritär und fundamentalistisch gebrandmarkt. Ein besonderes Spannungsverhältnis besteht dabei zwischen der zeitgeistigen Zivilreligion und der römisch-katholischen Kirche aufgrund ihrer spezifischen hierarchischen Struktur und des verbindlichen Lehramts des Papstes.

Dogmen und Gesetze

Die Zivilreligion hat ihre eigenen Dogmen. Ethik und Moral sind zeit- und ortsabhängig. Alle Menschen sind gleich. Menschen können durch Milieu und Erziehung von Grund auf verändert werden. Wenn sie nicht gleich sind, dann müssen sie gleich gemacht werden. Es gibt auch keinen Unterschied zwischen den Geschlechtern. Mann und Frau sind austauschbare Rollen, wie dies das Gender Mainstreaming in der krassesten Form postuliert. Homosexualität wird anerkannt als eine von mehreren (!) Formen möglicher sexueller Orientierung. Die Zivilreligion erhebt die Demokratie in ihrer derzeitigen Form der repräsentativen Parteienherrschaft zur besten aller möglichen Staatsformen. Der direkten Demokratie steht sie mißtrauisch gegenüber. Alle Religionen sind gleichwertig und ausschließlich Privatangelegenheit. Recht, Gesetz und Gerechtigkeit sind vom Wählerwillen abhängig und somit Ausfluß von manipulierbaren Mehrheitsentscheidungen. Die vom Gleichheitswahn besessenen Gutmenschen unserer Zeit sind die geistigen Nachfahren der „tugendhaften Bürger“ der Französischen Revolution von 1789, stets zur Denunziation und Anklage bereit. Mit ihrer Forderung nach unbegrenzter Toleranz haben sie ein unbeschreibliches Heuchlertum geschaffen. Hat der Begriff Toleranz bisher Duldung bedeutet, das Geltenlassen andersartiger, abweichender und fremder Meinungen, Wertvorstellungen, Ideen und Gewohnheiten, so wird er jetzt zum Ausdruck akzeptierter bzw. zu akzeptierender Gleichwertigkeit. Minderheiten und Randgruppen erlangen auf diese Weise eine noch nie dagewesene, ihnen sachlich nicht zukommende Bedeutung. Bestimmte geschichtliche Ereignisse dürfen nur aus einem bestimmten Blickwinkel betrachtet und diskutiert werden, der von der Political correctness als wesentliches Element der westlich-demokratischen Zivilreligion vorgegeben wird. Political correctness bedeutet aber nicht anderes als Denken in streng vorgegebenen Bahnen. Davon abweichende Meinungen und Bestrebungen verfallen unnachsichtlicher Verfolgung durch die Gedankenpolizei einer neuen Inquisition: Tabu, Stigmatisierung und Rufmord. Dazu Norbert Bolz in „Wer hat Angst vor der Freiheit“: „Je weniger sich die Meinungen der Einzelnen zur Geltung bringen können, desto stärker wird der Druck der öffentlichen Meinung auf den Einzelnen und sein Meinen. Und da es auf Dauer zu anstrengend ist, anders zu denken als man redet, denken die Meisten auch schon politisch korrekt. René Girard hat in diesem Zusammenhang von Verbalexorzismen gesprochen, und in der Tat geht es um eine neue Form von Inquisition, um eine politische Säuberung der Sprache. Früher nannte man das Linientreue. Solche Verbalexorzismen sind hochpolitisch, weil Sprache die Menschen macht, die sie sprechen. Politische Korrektheit ist die Rhetorik eines besetzten Landes. Und wieder nennen sich die Besatzer Befreier. Alle reden von Individualität, Diversität und Selbstverwirklichung – und alle denken dasselbe.“ Darüber später noch mehr.
Die Zivilreligion hat ihre eigenen Gesetze. Jeder muß mitwirken an der von der internationalen Hochfinanz und dem militärisch-industriellen Komplex der USA herbeigezwungenen Globalisierung und der Schaffung einer egalitären, multikulturellen und multireligiösen Gesellschaft, die von einer Weltregierung beherrscht wird. „Affirmative action“ und Quotensysteme gelten als neue Formen staatlich gelenkter sozialer Gerechtigkeit. Konsumieren ist Bürgerpflicht. So ist es kein Wunder, daß alles und jedes nach seiner Konsumierbarkeit taxiert wird. Unerläßlich ist die periodische Übung von Betroffenheitsritualen.

Glaubenskriege

Die Zivilreligion kennt auch Glaubenskriege. Diese werden vorgeblich geführt, um in jeweils anderen Staaten unter eklatanter Verletzung ihrer Souveränität den Menschenrechten zur Geltung zu verhelfen, religiösen Fundamentalismus zu bekämpfen oder einfach „to make the world safe for democracy“. Tatsache ist, daß Großmächte unter Vorgabe solch hehrer Ziele ihre geostrategische Position ausbauen oder sich damit die Verfügungsgewalt über wertvolle oder knapper werdende, im Eigentum fremder Staaten befindliche Rohstoffe sichern.
Auch der in der Bundesrepublik Deutschland bereits institutionalisierte und auch in Österreich immer häufiger gegen historisch und politisch Andersdenkende inszenierte „Kampf gegen Rechts“ ist ein Glaubenskrieg, dessen Kosten vornehmlich aus Steuergeldern gedeckt werden. Moralisierend und vorgeblich im Namen einer „wehrhaften Demokratie“ geführt, scheuen seine Protagonisten vor Geschichtsfälschung, Lüge und Verleumdung bis hin zur Vernichtung der bürgerlichen Existenz mißliebiger Personen nicht zurück. Fürs Grobe wird dann gerne eine aus Chaoten und Berufsrandalierern bestehende Antifa herangezogen, die den gewalttätigen Teil solchen „Kampfes gegen Rechts“ übernimmt.

Neusprech und Symbole

Die Zivilreligion hat ihre eigene Sprache. Diese hat – wen wundert es – vom Lande der „affirmative action“, den USA, ihren Ausgang genommen. In den Ländern deutscher Sprache, insbesondere im Mutterland des Nationalmasochismus, der Bundesrepublik Deutschland, hat sie jedoch im Bestreben nach umfassender Political correctness eine besonders bizarre Ausformung erfahren. Sie spricht konsequent nur von Menschen: behinderten Menschen, arbeitsuchenden Menschen, Menschen anderer sexueller Orientierung, Menschen ohne festen Wohnsitz – immer, um die Gleichheit aller zu betonen. Dabei gilt es auch, negative Konnotationen oder das, was als solche empfunden werden könnte, sorgfältig zu vermeiden. So gibt es keine Geschäftsführer mehr, nur noch Geschäftsleiter, will man doch – igitt! – keine Erinnerungen an einen längst verblichenen politischen Führer wachrufen. Auch von Vorgesetzten wird nur ungern gesprochen, da wird Teamleiter bevorzugt. Allgemein herrscht die Tendenz umfassenden Beschönigens und positiven Umdeutens. Untergebene sind schon längst zu Mitarbeitern, Portiere zu Eingangsleitern, Putzfrauen zu Raumpflegerinnen und Lehrlinge zu Auszubildenden geworden. Knechte und Mägde sind sowieso abgeschafft. Neger darf man nicht mehr sagen, Taubstumme gibt es auch keine mehr. Eskimos wurden zu Inuits, Lappen zu Samen, Zigeuner zu Sinti und Roma. Sträflinge werden zu im Justizvollzug befindlichen Menschen, Rauschgiftsüchtige zu drogenkranken Menschen, Rauschgifthändler schlicht zu Dealern und Prostituierte zu Sexualarbeitern und Sexualarbeiterinnen, sofern sie nicht in dummdeutschem Engleutsch „SexworkerInnen“ genannt werden. (Im linksgrünen „Salzburger Fenster“ wurden Huren auch schon als „Erotikfachfrauen“ bezeichnet – kein Witz!) Dicke werden zu Menschen mit erhöhtem Körpergewicht, Zwerge und Kleinwüchsige zu größenmäßig herausgeforderten Menschen, Ungebildete und Dumme (pfui!) zu wissensmäßig unterprivilegierten Menschen. Ungezogenes, disziplinloses oder rüpelhaftes Verhalten von Kindern und Jugendlichen wird positiv als „verhaltensauffällig“ umgedeutet. Illegale Einwanderer gibt es sowieso nicht, auch keine Wirtschaftsasylanten, sondern höchstens Menschen ohne Einreisebewilligung, die in Europa (vorzugsweise in Staaten mit hohen Sozialleistungen wie Österreich, Deutschland und der Schweiz) die Verbesserung ihrer ansonsten verzweifelten wirtschaftlichen Lage suchen. So ist es auch kein Wunder, daß die Gutmenschenmedien von „sogenannten Ausländern“ sprechen. Der sich zur „Sklavensprache“ wandelnde Neusprech triumphiert.
Bisher hat in der deutschen Sprache ein Substantiv in seiner maskulinen Form stets gleichwertig für beide Geschlechterformen gegolten. „Arbeiter“ bedeutete sowohl Arbeiter wie auch Arbeiterinnen, „Schüler“ meinte das männliche – und weibliche Geschlecht. Das war den Feministen zu wenig, sie verlangten Aufzählung, also „Arbeiterinnen und Arbeiter“, „Schülerinnen und Schüler“. Dabei wurde kritisch darauf geachtet, die jeweils weibliche Form der männlichen voranzustellen – wollte man gleicher sein als gleich, oder handelte es sich um einen Rückfall in die doch als überwunden abgelehnte Galanterie? (Von Diebinnen und Dieben, Mörderinnen und Mördern hat man bisher nichts gelesen oder gehört.) Welchen Rattenschwanz an Formulierung man sich dabei eingehandelt hat, zeigt der nachstehende, im Hessischen Landtag eingebrachte Antrag: „Sind die Schulleiterin oder der Schulleiter, ihre planmäßige Vertreterin oder ihr planmäßiger Vertreter und die Abwesenheitsvertreterin oder der Abwesenheitsvertreter der planmäßigen Vertreterin oder des planmäßigen Vertreters gleichzeitig länger als drei Tage abwesend, so ist …“ Weil eine solche Aufzählung allmählich zu mühsam (und vor allem zu unverständlich) wird, erfanden die linken Radikalfeministen das unsägliche, grammatisch falsche Binnen-I, also die Form „LeserInnen“. Diese Schreibweise ist zwischenzeitlich zum Kennzeichen „fortschrittlicher“, also linker Publikationen geworden. Auch die jüngst in einem Positionspapier des Österreichischen Gewerkschaftsbundes aufgetauchten ArbeitnehmerInnenvertreterInnen sind ein gutes Beispiel für die von einer radikalfeministischen Minderheit herbeigezwungene sprachliche Gender-Verblödung. Da haben es sich die österreichischen Grüninnen und Grünen schon leichter gemacht, indem sie Substantiva ganz einfach nur noch in der weiblichen Form sprechen und schreiben. Das bisher neueste Verlangen der Gender-Egalitaristen hat darin bestanden, geschlechtsbezogene Bezeichnungen wie beispielsweise Polizist oder Verkäuferin in eine nicht geschlechtsbezogene, neutrale Wortform umzuwandeln, also etwa Wachorgan oder Verkaufsperson. Aber auch dieses Begehren ist bereits durch noch „fortschrittlichere“ Anforderungen überholt worden, denen zufolge weder das Binnen-I noch die geschlechtsneutrale Formulierung genügt. So soll bekämpft werden, was die Extrem-Genderer als „Heteronormativität“ bezeichnen. Diese vertreten die verquere Auffassung, daß es mehr als zwei biologische Geschlechter gebe (!). Um dieser angeblichen Tatsache Rechnung zu tragen, müsse eine neue Schreibweise eingeführt werden – „Gender-Gap“ – gekennzeichnet durch einen Unterstrich oder ein Sternchen zwischen dem Nomen und der „gegenderten“ Endung, bspw. „Student_innen“ oder „Arbeiter*innen“. Diese Schreibweise habe dem offenbar unstillbaren Bedürfnis von Personen Rechnung zu tragen, die sich weder als Mann noch als Frau identifizieren können. (Wie das gesprochen werden soll, wurde von den Initianten dieser neuesten Sprachverböserung nicht mitgeteilt.) Darüber hinaus soll das Wort „man“ durch „mensch“ ersetzt werden, so daß sich die Ungleichheit wieder zu (erwünschter) Gleichheit wandelt.
Die der Zivilreligion eigene Sprache kommt besonders dann zur Geltung, wenn es gilt, mit überzeugten Christen oder traditionsverbundenen, ihr Land liebenden Bürgern abzurechnen. Sie werden als rückständig, reaktionär, fanatisch, autoritär, erzkonservativ, fundamentalistisch, faschistisch, rechtsextremistisch, rassistisch, antisemitisch (immer gut wirksam) oder neonazistisch (am allerwirksamsten) beschimpft. Solche Ausgrenzungen nennt die Zivilreligion Political correctness. Auch gibt es Bestrebungen zivilreligiöser Vertreter, die deutsche Sprache abzuschaffen. So will Herr Oettinger, bisher Ministerpräsident des deutschen Bundeslandes Baden-Württemberg, inskünftig für Deutschland Englisch als Amtssprache installieren und Deutsch nur noch für den privaten Gebrauch gelten lassen.
Die Zivilreligion hat ihre eigenen Symbole. Man betrachte nur die masonische Symbolik auf den (einmal als Weltwährung vorgesehen gewesenen) Dollarscheinen, die New-Age-Zeichen sowie die zahllosen Holocaust-Mahnmale, die alle das Kreuz Christi als Symbol abendländischer Gesinnung und Gesittung ersetzen sollen.

Rituale, Priester und Altäre

Die Zivilreligion hat ihren eigenen Verhaltenskodex. Ihre Gläubigen, unter ihnen die madenfressende „Holt-mich-hier-raus“-Pseudoprominenz unserer Tage, die „Animierten sine anima“ (Botho Strauß) wollen genießen, konsumieren, sich vergnügen („Spaß haben“), sich „selbst verwirklichen“. Sie wagen nichts mehr und sind zu keinen Opfern bereit. Diese Nutzmenschen drehen sich jahraus, jahrein um die eigene Achse ihrer trivialen Begehrlichkeiten (Thor von Waldstein). Die überkommene eigene Kultur wird in Frage gestellt, während der Einfluß fremder, selbst weit unterlegener Kulturen als willkommene Bereicherung der eigenen dargestellt wird. Im eigenen Volk werden kinderreiche Familien benachteiligt und ausgegrenzt, während die hemmungslose Fortpflanzung in Asien und insbesondere Afrika durch Hilfsgelder und Spenden unterstützt und gefördert wird. An die Stelle der naturgemäßen Liebe zur eigenen Familie, zu Heimat und Volk, hat eine gutmenschliche Fernstenliebe zu Fremden aller Art zu treten. Noch immer gilt, allen Erfahrungen zum Trotz, die multikulturelle Gesellschaft als erstrebenswerte Lebensform der Zukunft, obwohl sich längst erwiesen hat, daß sie keineswegs friedfertig oder ein buntes Fest ist, sondern aggressiv bis zur offenen Gewalt (Götz Kubitschek). Bei öffentlichen Stellungnahmen, welcher Art auch immer, ist die strikte Einhaltung bestimmter auferlegter Tabus und Rituale zwingend erforderlich. Wer anders denkt und handelt, muß sich vorsehen: Die herrschenden Liberalen sind liberal nur zu ihresgleichen, verfolgen aber Andersdenkende mit unnachsichtiger Härte. Dafür gibt es zahlreiche Beispiele.
Die Zivilreligion hat ihre eigenen Apostel und Missionare. Es sind dies die Lohnschreiber und Mundwerksburschen (Arnold Gehlen) der gleichgeschalteten Massenmedien und die sogenannten kritischen Intellektuellen, vielfach aber auch Hochschullehrer, die sich nicht mehr echter Wissenschaft und Wahrheitssuche verpflichtet fühlen, sondern Ideologien verkünden. Widerspruch wird nicht geduldet.
Die Zivilreligion hat ihre eigene Hierarchie mit Oberpriestern und weitgefächerten Lobbys. Zu ihr zählen in erster Linie die Angehörigen des politischen Establishments. Danach folgen Topmanager und die meist hochbezahlten Staatskünstler.
Die sogenannten Medienschaffenden sind die ungekrönten Herrscher der veröffentlichten Meinung. Ihnen zu widersprechen kann schnell in das gesellschaftliche und auch wirtschaftliche Abseits führen. Konsensdiskurs und Folgelosigkeit sind die ungeschriebenen Regeln der Medienmacher und Meinungskneter. „Über fast alles wird geredet, nichts wird entschieden. Konsens auf einem Minimalnenner ist stets und unausgesprochen der Zielpunkt. Harmlos über das Harmlose reden, nie konkret werden – die flächendeckende Talkshow“ (Götz Kubitschek). Erwähnenswert sind ferner die NGOs, die Non-Governmental Organizations. Viele von ihnen haben es verstanden, durch häufig geübten Alarmismus Aufmerksamkeit zu erregen. In der Folge haben es eine Anzahl von ihnen geschafft, Beraterfunktionen bei den UN einzunehmen und sind damit höchster Weihen teilhaftig geworden. Obwohl in vielen Fällen nicht demokratisch legitimiert, üben deren Funktionäre infolge geschickter Netzwerkbildung und dank der Unterstützung durch die Massenmedien eine bedeutende politische Macht aus. Daß in zahlreichen Fällen dabei nur die Meinung eines kleinen Kreises von Funktionären transportiert wird, ist offenbar nicht von Bedeutung:
Die Zivilreligion hat ihre eigenen Kathedralen: Massenvergnügungsorte wie Fußballplätze, Sportpaläste und Diskotheken, aber auch Banken. Sie hat sogar ihre eigenen Tabernakel: den Fernseher und den Computer. Das Internet wird zur Kanzel, die diversen Facebooks zu Beichtstühlen.
Die Zivilreligion hat ihre eigenen Altäre, auf denen sie Christentum, Geschichte und Tradition sowie bewährte überkommene Werte wie die Liebe zu Familie, Heimat, Volk und Vaterland zum Opfer bringt, desgleichen Tugenden wie Leistungsbereitschaft, Kameradschaft, Opfermut und Anstand. Sie entschuldigt sich gerne und oft für Taten und Handlungen der Vorfahren, schlägt kräftig an deren Brust und predigt einen nationalen Masochismus. Sie bringt die ungewünschten ungeborenen Kinder auf diesen Opferaltären dem Moloch ihres Egoismus dar. Lauthals verkündigt sie von ihren Kanzeln, daß nicht Gott den Menschen, sondern der Mensch Gott erschaffen habe. Mit der Errichtung von Mahnmalen für die Schuld des eigenen Volkes will die Zivilreligion das auferlegte Joch der Kollektivschuld bis in fernste Generationen erhalten.
Die Zivilreligion hat auch ihre eigenen Heiligen und Seligen. Zu ihnen zählen Mahatma Gandhi, Martin Luther King, Che Guevara und Markus Omofuma, daneben Michael Schumacher, Boris Becker, Heidi Klum und Madonna. Auch Winston Churchill, Nelson Mandela, Willy Brandt, Simon Wiesenthal und neuerdings Barack Obama sind große Heilige. Angela Merkel, Jürgen Habermas und einigen Bischöfe, aber auch dem Wiener Berufswarmen Gery Keszler wird der Grad der heroischen Tugend zuerkannt. Manchmal feiert die Zivilreligion auch ganze Gruppen als Auserwählte ihres Himmels, beispielsweise die weltweit vertretenen Simon-Wiesenthal-Zentren, das Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes und Antifa-Gruppen aller Art, aber auch eine siegreiche Fußballmannschaft, die Beatles oder die Rolling Stones. Die Zivilreligion glaubt auch an den Teufel, dieser heißt Nationalismus oder Patriotismus. Dazu kommen einige Unterteufel wie Konservatismus, Traditionalismus und Geschichtsrevisionismus.

Uniform und Kult

Die Zivilreligion hat ihre eigene Uniform. Sie besteht aus T-Shirt, Jeans und Turnschuhen. Krawatten sind unbeliebt. Während sie den Individualismus des einzelnen in den Mittelpunkt des gesellschaftlichen Lebens stellt, bringt sie mit dieser Uniformierung die Gleichheit aller zum sichtbaren Ausdruck.
Die Zivilreligion hat ihren eigenen Kult, den Kult des Menschen, den sie an die Stelle Gottes gesetzt hat. Sie ist bestrebt, das Naturrecht abzuschaffen. Ihr höchster Wert sind die universalen Menschenrechte. Von Menschenpflichten wird nicht gesprochen, es sei denn, es geht um die Durchsetzung der Political correctness. Mit dem Kult der Gleichheit aller Menschen stellt sich die Zivilreligion gegen zahlreiche Erkenntnisse der Naturwissenschaften, die sie dann als Biologismus regelmäßig erst in Zweifel zieht und dann verurteilt, weil nicht sein kann, was nicht sein darf. Parallel zur politischen und wirtschaftlichen Globalisierung wird neben dem Kult des Menschen auch der Kult der One World, das Einweltlertum, vorangetrieben, der sich vor allem in steter Besorgnis und Betroffenheit äußert. In aufgeregtem Aktionismus wird wegen der durch den Klimawandel angeblich gefährdeten Menschheit Alarm geschlagen. Dann wieder werden Solidarität und vor allem Gelder für Völkerschaften eingefordert, die oft Tausende Kilometer weit entfernt sind und von denen bisher kaum jemand etwas wußte. Kein Busunfall auf einem fremden Kontinent ist zu unbedeutend, um nicht durch die Medien dem Rest der Welt bekanntgemacht zu werden – schließlich geht es ja um Menschen in der einen Welt. In einer maßlos übersteigerten Tierliebe, die die Liebe zu eigenen Kindern ersetzen soll, wird die Anlegung von Krötenpfaden verlangt, während das Aussterben einer Lurchart in Tasmanien (wo liegt das eigentlich?) zu tiefer Besorgnis Anlaß gibt. Auch die Tötung streunender herrenloser Hunde in China ist Anlaß zu Besorgnis und Protesten. (Die Gründe für die jeweilige Besorgnis sind beliebig austauschbar.) Die gleichen so sehr besorgten Gutmenschen finden jedoch nichts dabei, wenn in der BRD tagtäglich etwa 1000 ungewünschte Kinder auf Gemeinkosten im Mutterleib getötet werden – in Österreich sind es nur (!) etwa 100. Hievon zeigt sich der Kult des Menschen nicht berührt, geht es doch dabei um die autonome Entscheidung einer emanzipierten Frau. Für ungeborene Menschen (im Abtreiberjargon „Zellhaufen“ genannt) sind in der Zivilreligion keine Menschenrechte vorgesehen.
Der Kult des Menschen hat auch in den etablierten (Amts-)Kirchen um sich gegriffen. Sie vermeinen, dem Zeitgeist, dem sie mühsam hinterher hecheln, durch ein falsches Humanitätsideal Rechnung tragen zu müssen und nähern sich damit der gottfreien Zivilreligion immer weiter an. Man denke nur an die Haltung dieser Kirchen zur sogenannten Fristenlösung, die nichts anderes als eine legalisierte Abtreibung ist. Auch die in wilder Ehe lebenden evangelischen Bischöfinnen, die Diskussionen um lesbische anglikanische Priesterinnen oder die Forderungen nach Frauenordination und Abschaffung des Zölibats in der römisch-katholischen Kirche gehören dazu – bis hin zu katholischen Priestern, die ihren bischöflichen Oberen den Gehorsam verweigern und weiterhin im Konkubinat leben.
All das sind Zeichen einer sich allmählich vollendenden Dekadenz. Dazu Karlheinz Weißmann: „Das deutlichste Kennzeichen von Dekadenz ist immer die Ausbreitung der Auffassung vom Nur-Leben als höchstem Wert; die letzten Menschen blinzeln und sagen ‚wir sind doch gleich, wir sind doch glücklich‘. Alles andere – die Hochschätzung von Schlauheit und Feigheit, die Urteilsschwäche, der Geburtenschwund, die Ausbreitung der Homosexualität, der Egalitarismus, der Aufstieg der Mediokren –, das sind nur Folgen. Im Kern geht es um eine Lebensform, die nicht mehr an sich glaubt, und die deshalb ihren Untergang will.“
Die Zivilreligion hat auch ihre eigenen Gedenk-, Fest- und Trauertage. An die Stelle der früher christlichen Heiligen gewidmeten Tage gibt es in der Zivilreligion Gedenktage wie den Tag der Menschenrechte, den Tag der Vereinten Nationen, den Welt-AIDS-Tag, den internationalen Frauentag, den Weltflüchtlingstag und dergleichen mehr, wobei dem Erfindungsreichtum der Gedenktagsproklamierer keine Grenzen gesetzt zu sein scheinen. So gibt es bereits auch einen Weltspartag, einen Weltmilchtag, einen Kaffee- und einen Welt-Lehrertag, desgleichen einen Welt-Diabetestag, einen Osteoporose- und einen Vegetariertag und einen Welttag der behinderten Menschen. Es gibt auch einen Equal Pay Day und einen World Overshoot Day. Einem zweifellos dringenden Bedürfnis folgend wurde auch ein Welttag des Kusses eingeführt. Zu den Festtagen zählen der Tag der Verkündigung der Menschenrechte durch Vertreter der Französischen Revolution von 1789 oder der Tag des Sieges der Allliierten über das Deutsche Reich im Jahre 1945. Bei den Trauertagen steht an erster Stelle der internationale Holocaust-Gedenktag.
Die Rigidität und Stringenz der westlich-demokratischen Zivilreligion der Gegenwart als Teil der derzeitigen politischen Kultur steht somit jener der Offenbarungsreligionen zur Zeit ihrer größten Machtentfaltung sicherlich nicht nach, bloß hat die Zivilreligion keine Erlösung anzubieten. Es bleibt bei der Verheißung des größten irdischen Glücks der größten Zahl der Angepaßten. Dem steht das Wort von Ernst Troeltsch entgegen, das Christentum sei das Europa zugewandte Gesicht Gottes. Sicherlich kann es auch ein Christentum ohne Europa geben, aber kein Europa ohne Christentum. Europa fußt auf drei Säulen: der griechisch-römischen Antike, dem Christentum und dem Germanentum. Diese Identität wird seit langem und von Institutionen und kulturpolitischen Machtgruppierungen unterschiedlicher Art in Frage gestellt. Die gegenwärtige Zivilreligion ist eine von diesen. Es lohnt sich, darüber nachzudenken.

 
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