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Alexander Dugin im Gespräch

„Ein mit Europa vereinigtes Eurasien halte ich für unmöglich“

Seit der Krimkrise belasten Sanktionen Europas Beziehung zu Rußland. Einer der bekanntesten russischen Publizisten, Alexander Dugin, hofft dennoch auf ein freundschaftliches Verhältnis zwischen Europa und Rußland in gar nicht so ferner Zukunft. Beide Mächte könnten in einer multipolaren Welt Repräsentanten zweier befreundeter Zivilisationen sein: der eurasischen und der europäischen. Daß Rußland eines Tages eine aktive Rolle in Europa spielen und sich mehr in Europas Angelegenheiten einmischen könnte, hält er hingegen für unrealistisch. Der 56jährige Vorsitzende der von ihm gegründeten Internationalen Eurasischen Bewegung fordert von Europa vielmehr eine Rückkehr zu seinen traditionellen Werten und mehr Unabhängigkeit von den USA. Für die Ukraine ergeben sich nach der Krimkrise aus seiner Sicht mehrere Optionen. Dugin hat seine Überlegungen in zahlreichen Schriften dargelegt, von denen bislang „Die Vierte Politische Theorie“ und „Konflikte der Zukunft. Die Rückkehr der Geopolitik“ ins Deutsche übersetzt worden sind. Das Interview mit ihm wurde in deutscher Sprache geführt.

Mit Alexander Dugin sprach Werner Weiss

Halten Sie vier Jahre nach der Annexion der Krim eine geeinte Ukraine noch für realistisch, oder sehen Sie die Zukunft der Ostukraine bei Rußland?

In der Ukraine leben zwei Völker – nicht im ethnischen Sinn, wohl aber im kulturellen – mit zwei verschiedenen Narrativen. An sich könnten sie in einem ukrainischen Staat koexistieren, nur müßte die ukrainische Regierung dazu beide Identitäten respektieren und befrieden. Vor dieser historischen Aufgabe stand die ukrainische Regierung nach dem Ende der Sowjetunion. Die Ukraine war ein künstliches Gebilde, doch es bestand damals die Möglichkeit, daraus eine geeinte Nation zu machen. Um das zu erreichen, hätte man aber beide Identitäten miteinander versöhnen müssen. Das hat die Regierung nicht getan. Dieser Fehler ist die Ursache dafür, daß die Ukraine heute ein „failed state“ ist.

 
Hat Rußland damals Fehler gemacht?

Rußland war vor vier Jahren verpflichtet, die Ostukraine zu retten, allerdings nicht, um seinen Raum imperialistisch zu erweitern, sondern um die dortige kulturelle Identität zu beschützen. Die Ereignisse auf dem Maidan stellten einen Angriff der westlichen Ukraine auf die östliche dar. Wie gesagt: Beide Seiten haben eine unterschiedliche kulturelle Identität. Die ostukrainische Seite will die Einheit mit Rußland, die westukrainische nicht. Für die Westukraine ist Hitler ein Retter, für den Osten hingegen Stalin. Aus westukrainischer Sicht ist Rußland ein aggressives Kolonialreich, für die ostukrainische Seite ist es das Vaterland. Der Putsch auf dem Maidan brachte beide Seiten gegeneinander auf. Wladimir Putin hat einen Teil der östlichen Hälfte eingenommen: die Krim und zwei weitere kleine Republiken.

 
Dafür haben Sie Putin damals scharf kritisiert. Sie forderten, daß er auch die restliche Ukraine erobert.

Nein, das hat der Westen völlig falsch interpretiert. Ich habe Putin aus einem anderen Grund kritisiert. Ich vertrete eine andere Sichtweise als er. Wladimir Putin ist Realpolitiker, ich denke und analysiere die Situation hingegen geopolitisch. Ich bin Eurasist, er ist Realist. Wir haben vieles gemeinsam, aber zwischen unseren beiden Zugängen gibt es große Unterschiede. Der Realismus denkt in Nationalstaaten und nationalen Interessen. Eurasien ist hingegen ein idealistischer Begriff, die Idee einer multipolaren Welt. Eurasien muß man als Zivilisation verstehen. Es geht nicht nur um Rußland als Staat. Das ist der eigentliche Grund für meine Kritik an Putin. In anderen Punkten, gerade wenn ihn westliche Medien zu Unrecht attackieren, gelte ich als sein Verteidiger. Aber in den inneren Angelegenheiten besteht zwischen uns eine ideologische Differenz.

 
Wie soll es nun in der Ukraine weitergehen?

Diese Entscheidung müssen beide Völker in völliger Freiheit treffen, weder unter Druck von Moskau noch unter Druck von Kiew. Fest steht: Die Ukraine kann ohne die Anerkennung beider Identitäten nicht existieren. Es gibt somit mehrere Möglichkeiten: Entweder beide Seiten bestehen gemeinsam in einem Staat weiter, oder es entstehen zwei unabhängige Staaten, oder die Ostukraine vereinigt sich mit Rußland. Wir dürfen diese Entscheidung aber nicht erzwingen.

 
Sie unterscheiden Putins Sonnen- und seine Mondphase: Mal vertritt er die patriotischen Interessen Rußlands, mal vertritt er die westlichen, liberalen Interessen. In welcher Phase befindet er sich jetzt?

Putin ist Realist und somit halb liberal, halb patriotisch. Darüber habe ich in meinem Buch „Putin vs. Putin“ (erscheint im Laufe des Jahres in deutscher Übersetzung) geschrieben. Ich denke, Putins Wesen ist weder Mond noch Sonne. Als Realist kann er beide Seiten vereinigen. Für Liberale und Patrioten ist die Koexistenz dieser verschiedenen Werte unnatürlich, aber für Putin ist sie das nicht. Wir können nicht vorhersagen, was Putin als nächstes tun wird. Die Unvorhersehbarkeit seines Handelns ist Folge dieser Mischung aus zwei Denkweisen in einem Mann. Früher dachte ich, die eine Seite könnte eines Tages über die andere gewinnen, aber heute denke ich, das ist unmöglich. Beide Seiten in Putins Wesen werden bis zum Schluß bestehenbleiben.

Eurasien oder liberaler Westen – Wohin wendet sich Rußland?

Bald sind Präsidentenwahlen. Werden Sie Putin wählen?

Das ist nicht so wichtig. Putin wird der nächste Präsident werden. Aufgrund seiner Position wird er die Unterstützung der Menschen erhalten. Er wird nicht wegen seiner Ideen und Taten gewählt werden, sondern aus traditionellen Gründen. Wir Russen sind ein monarchistisches Volk und wir wollen eine paternalistische Macht. Viele Leute in Rußland denken sehr schlecht über die jetzige Regierung, finden aber Putin gut. Das klingt nach einem Widerspruch, aber für die Russen ist es das nicht. Für uns ist das ganz natürlich. Putins Regierung hat nicht unsere Unterstützung: Sie ist weder genügend liberal, um von den Liberalen Unterstützung zu bekommen, noch genügend patriotisch, um von den Patrioten unterstützt zu werden. Aber Putin ist ein Monarch, und das ist der Grund dafür, daß er gewählt werden wird.
Das wirkliche Problem werden die nachfolgenden Wahlen sein. Die große Frage ist nämlich: Was wird Putin nachfolgen? Putin wird die Verfassung respektieren. Er will nicht ohne gesetzliche Grundlage herrschen. Gemäß unserer Verfassung darf er aber nach sechs weiteren Jahren im Amt nicht noch einmal zur Wahl antreten. Was danach kommen wird, weiß niemand. Putin gibt keine Richtung oder Ideologie vor. Er ist ein Monarch, ein nationaler Führer ohne eine klare Weltanschauung, die er an jemand anderen weitergeben könnte. Es fehlt eine leitende Idee. Alles kann uns nachher erwarten: Liberalismus, Patriotismus, mehr Eurasismus oder weniger, oder eine Fortsetzung beider Seiten, wie wir sie jetzt haben. Das wird eine historische Herausforderung für Rußland werden.

 
Sie haben bereits mehrmals den Eurasismus erwähnt. Die Eurasische Bewegung wurde von Ihnen begründet. Sehen Sie Europas Zukunft unter der Obhut Rußlands?

Europas Zukunft sehe ich unter dem Blickpunkt einer multipolaren Welt. Ich habe ein Buch über die Theorie der multipolaren Welt geschrieben, das auf deutsch unter dem Titel „Konflikte der Zukunft“ erschienen ist. Die Idee dabei ist: Rußland und Europa sind zwei Zivilisationen und nicht eine. Die amerikanische Zivilisation ist die dritte Zivilisation. Wir brauchen eine multipolare Ordnung, um eine Balance der Mächte zu erreichen. Dabei sehe ich Rußland als Freund Europas und der Vereinigten Staaten, allerdings ohne NATO und ohne diese „dualistische“ Politik von gestern. Es muß aus unserer Sicht drei Pole geben. Der europäische Pol muß dabei auf den europäischen Werten basieren, die eurasische Zivilisation auf eurasischen Werten.

Moderne und Aufklärung sind Irrwege – Europa muß zu seinen Werten zurückkehren

Rußland ist demnach eurasisch und Europa europäisch. Bis wohin reicht Europa?

Europa reicht von Lissabon bis nach Osteuropa. Rußland reicht von Osteuropa bis nach Wladiwostok. Und die USA sind eine Zivilisation, zu der auch Kanada und andere Staaten gehören. Für die Zukunft Europas ist nicht ein russisches Europa wichtig. Das ist nicht möglich. Wir haben nicht vor, Europa zu unterdrücken, und auch keine Möglichkeit dazu. Wir Russen wollen ein europäisches Europa, das unabhängig ist von uns und von den Amerikanern. Es soll ein souveräner geopolitischer Pol sein, der militärisch, politisch und ökonomisch unabhängig ist. Mein Traum ist, daß Europa wieder zu seinen griechisch-römischen Grundlagen, zum apollinisch-dionysischen Geist zurückkehrt und so vom Materialismus gerettet wird. Ich halte Modernität und Aufklärung für Irrwege, die vom natürlichen, organischen Europa zu einem Gegen-Europa geführt haben. Das ist meine persönliche Meinung, und es ist mein Traum, das ursprüngliche Europa wiederzuerkennen. Rußland wird dieses Europa unterstützen. Für Putin ist es wichtig, daß Europa ein geopolitischer Freund ist und sich von den Vereinigten Staaten etwas mehr distanziert. Aber er hat keine klare Idee von den Werten. Er ist strukturkonservativ, nicht wertkonservativ. Ich als Traditionalist glaube hingegen: Europa muß zu seinen traditionellen Werten zurückkehren. Ich bewundere die klassische europäische Kultur, die Europa heute verloren hat.

Welche geistigen Traditionen verbinden Sie mit dem klassischen Europa?

Ich denke an die platonische und aristotelische Philosophie und an die Phänomenologie Martin Heideggers, den ich für den größten Denker Europas halte. Dieses Denken wurde zugunsten linksliberaler Werte vergessen. Das klassische Europa zeichnete eine tiefe geistige Freiheit aus, für die nicht das Individuum zentral ist, sondern die Person. Diese klassische Kultur schöpfte aus der griechischen, lateinischen und christlichen Kultur. Mit der Aufklärung hat Europa seine christliche und seine griechisch-metaphysische Grundlage verloren. Ich träume von der Wiederkehr der zentralen europäischen Werte. Die aktuellen europäischen Werte sind nihilistisch, wie es Friedrich Nietzsche vorhergesagt hat.

 
Wenn Sie von Eurasien und Europa sprechen, meinen Sie nicht zwei staatliche Gebilde, sondern zwei Zivilisationen?

Meine Begriffe sind kulturell zu verstehen. So teilt zum Beispiel eine zivilisatorische Grenze die Ukraine: Die eine Hälfte ist eurasisch, die andere nicht. Die politischen Grenzen können sich ändern – das hängt von den politischen Ereignissen ab –, aber die zivilisatorischen Grenzen sind konstant. Die eurasische Identität ist daher eine kollektive Identität. Egal, ob unser geographischer Raum von Türken, Mongolen oder Russen kontrolliert worden ist: Es war immer ein eurasischer Raum. Wir haben viele Aspekte mit der europäischen Zivilisation gemeinsam: das Christentum und das griechisch-römische Erbe. Es könnte eine Allianz zwischen der eurasischen und der europäischen Zivilisation bestehen, oder wir könnten isoliert leben. Das alles hängt von der jeweiligen historischen Situation ab. Mir geht es nur darum, die zivilisatorische Grenze zu akzeptieren. Wenn wir ein unabhängiges Europa hätten, wäre es ganz leicht, diese Grenze zu definieren und im positiven Sinn zu überschreiten. Hier besteht zurzeit ein Problem zwischen mir und meinen europäischen Freunden, die alle Nonkonformisten von rechts und von links sind. Sie wollen Rußland aktiver in Europa sehen, wollen, daß sich Rußland mehr in Europa einmischt. Sie wünschen sich das mit Europa vereinigte Eurasien. Das halte ich für unmöglich. Wir mögen sehr gute Kontakte zum unabhängigen Europa pflegen, aber wir wollen auch die zivilisatorische Grenze respektieren und nicht beseitigen.

„Europa ist nicht das Ziel für die gesamte Menschheit“

Wen zählen Sie zu Ihren europäischen Freunden?

Etwa Emmanuel Leroy in Frankreich oder die schwedische Linke, darunter den Schriftsteller Jan Myrdal. Meine Freunde sind Populisten von links und von rechts. Ich fühle mich allen Kritikern der aktuellen Situation der EU – ihrer illegitimen Eliten und deren „liberal-rassistischen“ Methoden – verbunden. Als wichtig erscheint mir nicht ein mit Europa vereinigtes Eurasien, das ich auch für unrealistisch halte, sondern daß sich zwei einander freundschaftlich gesinnte Zivilisationen gegenseitig anerkennen. Diese Anerkennung ist von großer Bedeutung, gerade im Hinblick auf den Eurozentrismus. Das moderne, atlantische und nicht natürliche Europa pocht auf die Universalität der Menschenrechte, die für die gesamte Menschheit gelten würden, ohne dabei zu fragen, was der Mensch ist. Das Verständnis des Menschen ist von den jeweiligen Traditionen abhängig. Hier geschieht ein Monolog, ein Universalismus, den man als eine Form des kulturellen Rassismus bezeichnen kann. Dieser Eurozentrismus muß bekämpft werden. Europa ist nicht das Ziel für die gesamte Menschheit. Die europäische Menschheit ist sehr interessant, aber nicht universal. Sie hat ihre eigene Geschichte, ihre eigenen Erfahrungen. Man kann Europas Erfahrungen nicht kosmopolitisch auf den gesamten Globus übertragen. Sie sind nicht universell. Mit den anderen Zivilisationen müßte Europa vielmehr in einen Dialog treten.

 
In Österreich wurden Sie wegen ihrer Kontakte zur FPÖ bekannt. Auch waren Sie bereits auf dem Akademikerball.

Dort habe ich Wein getrunken und getanzt. Der Ball ist mir in sehr schöner Erinnerung geblieben. Ich zähle auch die FPÖ zur meinen Freunden. Ich halte den Euroskeptizismus dieser Partei für sehr gut begründet, denn die Europäische Union ist antieuropäisch. Aber ich habe keinerlei Sympathie für den Nationalismus. Europa muß eine Einheit sein. Die Rückkehr zu den Nationalstaaten ist nicht die Lösung für die jetzigen Probleme. Ich denke, ein föderales, unabhängiges Europa müßte eine große Schweiz sein, in der neben Frankreich und Deutschland auch die Niederlande, die Schweiz und Österreich eine Rolle spielen.

 
Suchen Sie die Zusammenarbeit mit europäischen Parteien?

Heute ist das Entwickeln von Ideen wichtiger als die politische Arbeit. Das habe ich auch meinem Freund, dem US-amerikanischen Politikwissenschaftler Francis Fukuyama, gesagt. Wir brauchen ein nonkonformistisches Verständnis dessen, was Demokratie ist. Ich denke, die Demokratie müßte die Regierung der Völker sein – wohlgemerkt: der Völker, nicht des Volkes, und auch nicht die Herrschaft der Individuen. Ich glaube, der Populismus ist heute eine emotionale Reaktion gegen die Diktaturen der liberalen kosmopolitischen Eliten. Wir brauchen jetzt eine andere, neue Form des Populismus, einen intellektuellen Populismus, basierend auf einer Völkerrechtstheorie, derzufolge die Völker selbst über sich entscheiden können.

 
Sie sind auch von europäischen Denkern beeinflußt.

In einem entscheidenden Ausmaß. Sie sind aber alle prä- oder postmodern. Mein bester ideologischer Freund ist der französische Philosoph Alain de Benoist. Ich habe meine Vierte Politische Theorie gemeinsam mit ihm entwickelt. Ich bin darüber hinaus in entscheidendem Ausmaß von Martin Heidegger und Friedrich Schelling beeinflußt, ebenso aber auch von dem österreichischen Denker Othmar Spann und von dem österreichischen Publizisten Heinrich Jordis von Lohausen. Auch glaube ich, daß Claude Lévi-Strauss und Franz Boas großen Einfluß auf mich hatten, wie auch viele andere europäische Autoren.

Liberalismus ist totalitärer Nihilismus

Ihre fundamentale Kritik gilt heute dem Liberalismus. Gibt es etwas, das den Liberalismus – über alle seine verschiedenen Strömungen hinweg – auszeichnet?

In meinen Büchern – es sind insgesamt 40 – habe ich eine Theorie des Liberalismus entwickelt. Aus meiner Sicht ist der Liberalismus eine Ideologie. Natürlich gibt es verschiedene Formen des Liberalismus, aber ein Wesensbestandteil davon ist ein bestimmtes Verständnis des Individuums. Zentrales Ziel ist die Befreiung des Individuums von allen Formen kollektiver Identität. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts hatte der Liberalismus primär ökonomische Ziele, später, zur Zeit der Kämpfe gegen Faschismus und Kommunismus, wurde er politisch. Doch heute gibt es den Faschismus und den Kommunismus nicht mehr. Die offenen Feinde des Liberalismus existieren nicht mehr. Deshalb zeigt der Liberalismus uns nun sein wahres inneres Wesen – und das ist der Nihilismus. Wenn wir nämlich den Menschen von allen Formen kollektiver Identität befreien, bleibt nichts mehr übrig. Dieses Nichts verkörpert einen leeren Begriff des Individuums. Heute ist klar, daß dieses Nichts im Zentrum des Liberalismus steht und allgegenwärtig ist. Nach dem Sieg über seine Gegner hat der Liberalismus somit sein nihilistisches Wesen enthüllt. Nun erleben wir eine totalitäre politische Diktatur des Liberalismus. Es sind Liberale, die uns erklären, was wir alles akzeptieren müssen. Karl Popper sprach von der „Offenen Gesellschaft und ihren Feinden“. Sein Buchtitel ist Ausdruck eines totalitären Kampfs, so wie „Das Kapital“ oder „Mein Kampf“. Wer sind Poppers Feinde? Es sind alle Nicht-Liberalen. Der Posthumanismus und die Gender-Politik von heute sind eine Folge des Liberalismus. Nun müssen wirklich alle kollektiven Identitäten – ob geschlechtlich, national oder was auch immer – abgelegt werden. Der rechte und der linke Liberalismus sind nur unterschiedliche Wege zum selben Ziel. Der eigentliche Liberalismus ist aber weder rechts noch links. Er ist die schlimmste Ideologie und die schlimmste Repräsentation von Moderne. Mit dieser Moderne und dieser Aufklärung begann die Zerstörung der europäischen Identität. Liberalismus ist für mich die Essenz der Moderne. Als der Liberalismus noch mit dem Kommunismus und dem Faschismus kämpfte, trat sein totalitäres Wesen nicht zutage.

 
Sie lehnen den Kommunismus und den Faschismus ebenfalls ab. Welche Ideologie vertritt dann die Eurasische Bewegung?

Ich bin Antikommunist und Antifaschist, aber eben auch antiliberal. Die Liberalen haben keine weitere Definition für ihre Gegner, deshalb wollen sie mich entweder als Faschisten oder als Kommunisten klassifizieren. Die Wahrheit ist: Ich bin Vertreter der Vierten Politischen Theorie. Sie ist postmodern und enthält eine prämoderne Vision jenseits der vier modernen Subjekt-Begriffe: Individuum, Klasse, Rasse, Nation. Diese Begriffe müssen wir in der Vierten Politischen Theorie überwinden.

Was tritt an deren Stelle?

Das Volk und das Sein – das Sein dabei im Heideggerschen Sinn, das Volk im prämodernen, Renaissance-Sinn, also nicht als Gesellschaft, sondern als Gemeinschaft. Die Gemeinschaft ist ein organisches Kollektiv, nicht ein artifizielles, und das ist das Volk: Es ist eine geistige Gemeinschaft. Der deutsche Soziologie Ferdinand Tönnies hat zu diesem Thema das Buch „Gemeinschaft und Gesellschaft“ verfaßt.

 
Für Ihren Reichsbegriff scheint die Frage der Religionszugehörigkeit nicht wesentlich: Auch Muslime können dem Eurasischen Reich angehören, wie Sie unterstreichen.

Der Islam ist eine Religion mit zwei Wegen: Einer ist eher eurasisch und organisch, wie die Schia und der Sufi-Islam, der Wahhabismus hingegen stellt einen materialistischen, individualistischen Fundamentalismus dar. Der heutige Islam wird durch den Wahhabismus in der Öffentlichkeit nur sehr einseitig wahrgenommen.

Slawophile und Westler

In der russischen Geschichte stößt man abwechselnd auf mehr nach Osten oder nach Westen orientierte Persönlichkeiten. Die beiden Nationalhelden Alexander Alexander Newskij (1220–1263) und Danylo von Halytzkyj (1201–1264) verkörpern diese beiden Richtungen: Newskij bekämpfte die Deutschordensritter und verbündete sich mit den mongolischen Eroberern, Danylo von Halytzkyj verbündete sich hingegen mit den katholischen Polen gegen die Mongolen. Welchem dieser beiden Helden fühlen Sie sich mehr verbunden?

Alexander Newskij ist mein Held, nicht Halytzkyj. Das ist klar. Allerdings wurden beide von den Mongolen unterdrückt. Alexander Newskij war der erste, der die Mission hatte, Rußland in Eurasien zu integrieren und groß zu machen. Danylo von Halytzkyj war allerdings auch ein Held, weil er für die kirchlichen Werte kämpfte, nur tat er das gemeinsam mit der römisch-katholischen Kirche. Alle orthodoxen Christen, die das wollten, fanden ein schlechtes Ende. So war das auch schon im Byzantinischen Reich. Wir müssen aber in beiden Persönlichkeiten Helden sehen, denn sie waren nicht Feinde, sondern haben nur unterschiedliche Entscheidungen getroffen. Ich denke, zwischen den westlichen Kräften und den Slawophilen ist ein Frieden möglich. Viele russische Westler sind auch Nationalisten und keine Liberalen. Beide sind die Söhne der russischen Kultur und der eurasischen Zivilisation. Der Schriftsteller Alexander Solschenizyn ist ein Beispiel dafür, wie ein antikommunistischer, proliberaler Dissident zum Slawophilen und russischen Nationalisten wird.

 
Mit welcher der bisherigen russischen Epochen würden Sie die jetzige Phase der russischen Geschichte vergleichen?

Die russische Geschichte verläuft nicht linear. Seit 1990 findet eine Rückkehr zum traditionellen Russischen Reich statt. Diese Rückkehr verlief zunächst vom Kommunismus zum Kapitalismus. Putins Zeit ist ein weiterer Übergangsschritt zur Restauration des traditionellen Russischen Reichs. Doch die Rückkehr zu unserer traditionellen Identität ist noch nicht vollendet. Wir sind mitten in einem Transformationsprozeß.

 
Denken Sie, Rußland bräuchte heute eine Persönlichkeit wie Iwan IV. Wassiljewitsch (besser bekannt als Iwan der Schreckliche)?

Ich denke, Zar Iwan IV. wurde oft mißverstanden und dämonisiert. Damals ereignete sich ein entscheidender Moment, da Rußland das byzantinische Erbe antrat. Es war der wichtigste Moment der russischen Geschichte. Wir können diesen Moment nicht wiederholen. Heute wird ein absolut neues Rußland entstehen, ein postmodernes, nicht ein prämodernes. Die schlechtesten Seiten unserer Geschichte sollten wir nicht wiederholen.

 
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